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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Temporin
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Dunkelheit in Händen hielt.
    Ich riss die Augen auf. »Wie …? Woher hast du das?«, fragte ich. Er konnte es unmöglich gefunden haben, als meine Mutter es verbrannt hatte. Es hätte überall wieder aufgetaucht sein können.
    »Es ist mir praktisch in die Hände gefallen«, sagte er achselzuckend. »Ich schwöre dir, die Flammen sind direkt vor mir aufgelodert, als ich aus dem Luna Dark gekommen bin.«
    Ich sagte nichts. Bislang hatte ich immer gedacht, es sei purer Zufall, wie und wo die Objekte im Cinerarium auftauchten. Aber wahrscheinlich lag es an mir – ich war dabei gewesen, als das Buch verbrannt war. Ich konnte nicht ausschließen, dass meine Anwesenheit einen Einfluss auf den Weg des Buches gehabt hatte. Ich hatte mir damals fest gewünscht, es nicht zu verlieren, und vielleicht hatte sich mein Wunsch genauso auf den Gegenstand übertragen wie sonst immer auf die Orte.
    Immerhin war Nate die einzige Person, die das Buch hatte retten können.
    Doch von alldem sagte ich nichts, sondern lächelte nur.
    »So ein Zufall!«, flüsterte ich.
    »Setz dich«, sagte er und legte eine Hand auf die Treppenstufe.
    Ich blieb stehen und betrachtete seine schlanken Finger. Mit einem kurzen Schauder fiel mir ein, was ich in der alten Handschrift gelesen hatte. Und was ich für ihn empfand. Mich neben ihn zu setzen würde bedeuten, eine Münze an einen Magneten zu halten. Doch noch wollte ich nicht mit ihm darüber sprechen, also tat ich, wie er mir geheißen. Nicht sehr nah, damit wir uns nicht versehentlich berührten. Auch er rückte unauffällig ein Stück ab. Es war schrecklich, genau das Gegenteil dessen machen zu müssen, was wir empfanden. Fürs Erste begnügte ich mich mit seinem Duft. Er roch gut, obwohl alles um uns herum verbrannt war.
    »Weißt du«, sagte er und holte mich aus meinen Gedanken, »ich habe das Gefühl, dass ich dieses Buch kenne, als hätte ich es schon einmal gelesen.«
    »Echt?«
    Das war ein weiterer beachtlicher Zufall.
    »Ja, ich erinnere mich an die Personen darin.«
    Nate lächelte mich an und wieder bekam er diese kleinen Grübchen, die mich schon beim ersten Mal sofort bezaubert hatten.
    »Dieser Vampir ist richtig sympathisch.«
    »Es ist mein Vater«, sagte ich und zog, angesteckt von seinem Lächeln, ebenfalls die Mundwinkel nach oben.
    »Dein Vater?«, fragte er ein wenig verblüfft. »Dein Vater ist der Vampir aus diesem Buch? Ich dachte, es sei eine erfundene Geschichte.«
    »Ich habe es auch erst gestern herausgefunden. Ich hatte geglaubt, er sei gestorben, als ich klein war. Nie im Leben wäre mir in den Sinn gekommen, dass er ein Vampir ist.«
    Meine Worte schienen Nate nicht besonders zu beeindrucken. Aber er war es ja auch gewöhnt, mit tausendmal schrecklicheren Kreaturen zu leben.
    »Wusstest du, dass dies hier das Schloss aus dem Buch ist?«, fragte ich ihn.
    »Wirklich?«, sagte er leise und blätterte darin herum. »Ich bin gekommen, weil ich die Illustrationen gesehen habe und es mir ähnlich vorkam. Aber ich hätte nicht gedacht, dass es tatsächlich genau dasselbe ist.«
    Seine sanfte, warme Stimme verursachte mir Unbehagen. Ihm so nah zu sein war schlimmer als tausend Meilen Distanz.
    »Tja. Bizarr!«, sagte ich zerstreut.
    Ich musste mich ablenken, wenn ich der Versuchung widerstehen wollte, ihn am Ellbogen zu berühren. Ich sah, wie er seine Hände bewegte, und biss mir auf die Lippen. Ich hatte mir schon gedacht, dass unsere gegenseitige Anziehung schwer zu kontrollieren wäre, aber ich hatte ja keine Ahnung gehabt, wie sehr. Es war geradezu nervenaufreibend, dagegen anzukämpfen.
    »Ich war in unserem Versteck«, sagte ich schließlich.
    Er hörte auf, in dem Buch zu blättern.
    »Tut mir leid, ich war die ganze Zeit hier, um zu lesen.«
    »Ist doch egal«, sagte ich und strich mir über die Hose. Meine Hände fühlten sich feucht und warm an.
    »Hast du das Buch aus der Bibliothek gefunden? Ich habe es für dich dortgelassen.«
    »Was? Ach ja, das Buch … Ich hab’s gefunden.«
    »Und stand etwas Interessantes drin?«
    »Es war alles hochinteressant.«
    Ich erzählte ihm, was ich übersetzt hatte. Mit einem Stock malte ich die Illustration in die Asche und erläuterte sie währenddessen. Während ich kleine Furchen zog, erklärte ich ihm, dass das Cinerarium eine Welt zwischen Leben und Tod war. Nate beugte sich vor und verschränkte die Arme auf den Knien. Als ich ihm sagte, wie man hierhergelangte, unterbrach er mich. Instinktiv wollte er nach meiner Hand

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