Ascheträume
fragte ich Charles.
Charles nahm sie in die Hand und inspizierte sie von allen Seiten.
»Nein, noch nie. Gehen wir rein.«
Wir setzten uns in die erste Reihe. Charles legte die Schatulle auf seinen Schoß und inspizierte sie, während Leo den Iris-Strauß an sich nahm.
»Ich habe gestern Abend einen Brief an Nate geschrieben«, sagte ich.
Charles hob den Kopf, er wirkte benommen. Wahrscheinlich hatte er die ganze Nacht nicht geschlafen.
»Und an welche Adresse hast du ihn geschickt?«, fragte Christine lächelnd.
»Ich habe ihn verbrannt. Ich hoffe nur, dass Nate ihn gefunden hat. Dafür hat er einen sechsten Sinn!«
Wieder richteten wir unsere Aufmerksamkeit auf die Schatulle.
»Sieht ganz danach aus, als könnten wir ohne Schlüssel nichts ausrichten«, meinte Charles. »Sie ist handgemacht; alles ist geschweißt. Es wäre sinnlos, sie aufbrechen zu wollen. Wenn wir mit Feuer arbeiten, riskierten wir, den Inhalt zu verbrennen.«
Genau das gleiche hatte ich auch gedacht.
»Nun, während ihr versucht, sie aufzubekommen, mache ich eine Reise ins Cinerarium. Hoffentlich reagiert Nate gut darauf!«, sagte ich, als Leonard mir die Iris gab.
Charles lächelte. »Gib ihm einen Kuss von mir.«
»Das werde ich!«
Ich hatte es wirklich vor. Ich wollte ihn küssen, so wie der Duft der Iris mein Gesicht küsste und mich ins Cinerarium schickte.
Asche.
Nichts als Asche.
Ich lag auf den Dünen.
Ich setzte mich auf.
Vor mir lag das große Schiff, in dem Nate wohnte. Vor Antritt meiner Reise hatte ich an diesen Ort gedacht. Ich dachte, nach unserem Streit hätte Nate vielleicht Zuflucht in einer vertrauten Umgebung gesucht.
Ich stand auf und ging zu dem Spalt, durch den ich über den Kiel steigen konnte. Drinnen rief ich: »Nate!«
Keine Antwort. Ich ging an der Bordseite entlang zum Eingang seines Zimmers und klopfte an das verbrannte Blech. Nichts. Ich beschloss, hineinzugehen. Ich war überzeugt, dass er absichtlich nicht reagierte, und stellte mir vor, ihn auf dem Bett sitzend vorzufinden, das er aus einem Rettungsboot gemacht hatte. Aber das Zimmer war leer. Ich lauschte auf Geräusche. Er schien wirklich nicht hier zu sein. Vielleicht war das ein gutes Zeichen, vielleicht wartete er in unserer Zuflucht auf mich.
Ich wollte schon wieder gehen, da sah ich auf dem kleinen Schreibtisch meinen Brief. Er hatte ihn gefunden. Meine Hypothese, wie Dinge ins Cinerarium gelangten, hatte sich also bestätigt.
Ich verspürte eine leichte Genugtuung. Doch als ich sah, in welchem Zustand der Brief war, sank meine gute Laune ins Bodenlose und vermischte sich mit der Asche.
Der Brief war zerrissen.
Ärger, dessen Ursprung ich nicht kannte, überkam mich, tief und intensiv. Ich sah mich auf dem Schreibtisch um – er war leer. Alles, was vorher einmal dort gestanden hatte, lag nun auf dem Boden, als hätte es jemand in einem Wutanfall hinuntergefegt.
Ich hatte gedacht, die Missverständnisse mit meinem Brief beseitigen zu können, aber offensichtlich hatte ich mich geirrt. Nate war nicht so reif und nett, wie ich geglaubt hatte. Ich spürte, wie sich meine Kehle zusammenzog. Ich hatte das Gefühl, der Riss liefe nicht durch das Papier, sondern auch durch mich selbst, als hätte man mich an den Armen zwischen zwei wild gewordene Pferde gespannt, die in verschiedene Richtungen zogen.
Was war denn das für eine Reaktion? Eine Entschuldigung musste man doch annehmen! Außerdem gab es beileibe nicht viel, wofür ich um Verzeihung hätte bitten müssen.
In diesem Moment wünschte ich mir sehnsüchtig, das Cinerarium zu verlassen und nie mehr wiederzukommen. Es lohnte wirklich nicht die Mühe, für einen wie Nate seine Zeit zu vergeuden und sein Leben zu riskieren. Ich schloss die Augen und nutzte meine Rage, um mich zu konzentrieren. Vor Wut knurrend kniff ich die Augen zusammen und ballte die Fäuste, aber es gelang mir nicht, zu verschwinden. Als ich die Augen wieder aufschlug, war ich noch immer im Cinerarium. Ich würde warten müssen, bis die Iris über meine Abreise entschieden.
Mit schweren Schritten ging ich rückwärts an der Bordseite des Schiffes entlang bis zu dem Spalt im Kiel.
Kaum war ich draußen, ließ ich meiner Wut freien Lauf, als hätten die Schiffswände sie bis dahin unter Kontrolle gehalten. Ich blieb stehen und brüllte. Ich brüllte so laut, dass man mich wahrscheinlich bis zu den Grenzen des Cinerariums hörte.
Ich hielt meinen Blick starr auf den aschigen Sand gerichtet und schnappte nach
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