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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Temporin
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Geburtstag geschenkt hatte. Ich fand ihn passend für das, was ich vorhatte. Ich tunkte die Feder in die Tinte und machte mich an die erste Zeile.
    Ich schrieb:
    Lieber Nate,
    ich schreibe Dir aus der Welt, die Du verlassen hast und die mir – wie Deine Welt – nun wie ein Gefängnis ohne Gitter vorkommt.
    Normalerweise verschicken Schiffbrüchige ihre Nachrichten in einer leeren Flasche, die sie ins Meer werfen, ich hingegen vertraue mich dem Feuer an in der Hoffnung, dass Du meine Post im Aschemeer findest.
    Ich habe sehr unter dem gelitten, was bei unserem letzten Treffen vorgefallen ist. Du musst mir glauben, mein Herz brennt mindestens so sehr wie Deines. Ich glaube, Du hast mein Verhalten falsch verstanden. Ich war schroff zu Dir, weil es mir missfallen hat, wie voreingenommen Du Ludkar gegenüber warst, vor allem aber weil ich dachte, er würde uns nützliche Informationen verraten, wenn wir ihm seinen Willen ließen. An Deiner Reaktion habe ich gesehen, dass ich mich getäuscht habe.
    Verzeih mir bitte. Ich mag Dich zu sehr, um Dich zu verletzen. In diesem Moment würde ich Dich gern im Arm halten und die ganze Nacht und alle Nächte, die noch kommen, neben Dir verbringen. Ich will Dir in die Augen sehen und Dir Deine Geschichte erzählen, die aus tausend Farben besteht, den Farben Deiner wundervollen Seele. Aber nun sitze ich hier vor einem Blatt Papier, das mir nichts verheißt und das schweigt, wenn ich es nicht mit Tinte beschrifte.
    Heute habe ich etwas herausgefunden, was es Dir hoffentlich möglich macht, mir zu verzeihen. Ich weiß jetzt, wer Dein Vater ist. Scheinbar bin ich mittlerweile eine Expertin in Sachen Väter. Er heißt Charles Addams und wohnt in meiner Nachbarschaft. Er war ein Freund von Kolor und schickt Dir eine Nachricht:
    Er sagt, dass er Dich liebt und immer an Dich denkt, jeden einzelnen Tag. Dass fast zwanzig Jahre seit Deinem Tod vergangen sind, und dass Du mir vertrauen sollst. Es war Schicksal, dass wir uns begegnet sind.
    In dieser Welt ist Dein Körper zwar tot, aber dass Du lesen kannst, heißt, dass Du weiterlebst. Dein Vater wartet so sehr auf Dich wie auch ich.
    Wir wollen, dass Du zurückkommst, Nate. Wenn nötig, werde ich die Grenze des Todes überschreiten.
    Versprich mir, dass Du an mich denkst.
    Ich denke an Dich,
    Thara
    Irgendwann. Irgendwo.
    Ein kleiner Tropfen fiel auf das Blatt.
    Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich weinte.
    Ich las noch einmal durch, was ich geschrieben hatte, und stand dann langsam auf.
    Ich öffnete das Fenster. Draußen erleuchtete das Apothekenkreuz die Nacht mit seinem grünlichen Schein.
    Ich holte Streichhölzer aus der Küche und kniete mich ans Fensterbrett. Ich riss ein Streichholz am Rand der Schachtel an, und die Flamme entzündete sich mit einem schwachen Funken.
    Ich schloss die Augen und betete, meine Nachricht würde zu Nate gelangen. Dann hielt ich das Streichholz an den Brief, der gleich darauf Feuer fing.
    Die Flammen verschlangen das Papier wie hungrige Insekten, die sich über ein Laubblatt hermachten. Im nächsten Moment war alles grau und zerfiel in winzige Teilchen.
    Ein Windstoß riss mir die Fetzen aus der Hand, und ich sah sie aus dem Fenster flattern. Sie sahen aus wie eine Sternschnuppe, die in die entgegengesetzte Richtung fiel. Sie flog zum Himmel – mit wer weiß welch unbekanntem Ziel.
    Während die Stadt schlief, wurde mir bewusst, dass auch ich einer ihrer Bewohner war. Ein bisschen Ruhe – sollte ich je dazu kommen – würde mir die schwere Last nehmen, die mich niederdrückte.

Ich war so müde, dass ich weder Träume noch Albträume hatte. Letztere erwarteten mich eher in der realen Welt.
    Als ich aufwachte, rief ich als Erstes meine beiden Freunde an und erzählte ihnen von Nate und Charles. Ich sagte ihnen, wir müssten uns so bald als möglich im alten Kino treffen und versuchen, die Schatulle zu öffnen.
    Ich zog mich an, trank den Kaffee aus, der vom Vorabend noch übrig war, und nahm die Eisenschatulle an mich.
    Als ich das Haus verließ, merkte ich, dass meine Mutter noch schlief. Als ich am Treffpunkt ankam, waren schon alle da.
    Christine und Leonard unterhielten sich mit Charles, sie sahen aus wie zwei lechzende Hunde.
    »Das ist doch absurd!«, sagte Christine, als sie auf mich zukam.
    »Absurd sind auch meine Augen«, gab ich zurück und ging zu Charles. »Hast du die Iris mitgebracht?«
    Er nickte.
    »Und was ist mit dieser Schatulle?«, fragte Leo.
    »Hast du sie schon mal gesehen?«,

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