Ascheträume
war. Gerade wollte ich es wieder verlassen, als mein Blick auf ein Nachtkästchen fiel.
Die Knie wurden mir weich.
Ich musste mich festhalten, um nicht zu fallen.
Was ich in diesem Augenblick empfand, war größer als das Grauen, das mich bei meinem ersten Zusammentreffen mit Ludkar gepackt hatte.
Auf dem Nachttisch stand ein Foto, und auf dem Foto war nicht mein Vater – nein. Da waren Charles, Sally …
Und da war Nate.
Ja, Nate.
Zwischen Charles und Sally stand Nate.
Ich eilte ins Erdgeschoss und lief durch den Flur ins Wohnzimmer.
Ich überraschte Sally, die weinend vor dem Fernseher saß.
Auf dem Bildschirm lief kein Film, sondern eine Kassette mit Familienszenen: Sally, ihr Mann und Nate im Urlaub am See von Gorey.
Sie grillten.
Meine Mutter und Kolor lagen auf Liegestühlen in der Sonne und winkten in die Kamera.
In diesem Moment fiel mir nicht auf, dass mein Vater mit einer Sonnenbrille auf der Nase in der Sonne schmorte, ich sah nur Nate.
Sally drehte sich zu mir um.
»Verstehst du jetzt, warum wir das alles vergessen wollten?«
»Wo ist Charles?«, fragte ich mit zitternder Stimme.
»Am Grab unseres Sohnes. Wie jeden Abend.«
Ich nahm ein Taxi.
Das Friedhofstor stand offen, ich sah Charles’ Wagen, der direkt davor geparkt war. Ich hatte noch nie Angst vor Friedhöfen gehabt, die Toten schreckten mich normalerweise nicht, aber an diesem Abend war es anders.
Allein der Gedanke, einen Grabstein mit Nates Namen zu finden, verursachte mir Panik.
Ich schlang die Arme um mich und ging zwischen den Gräbern hindurch, aber ich fror innerlich. Ich spürte das Gras unter meinen Füßen und hörte Ludkars Lachen im Geäst. Der Vampir hatte recht gehabt, seine schreckliche Andeutung war wahr: Mein Vater hatte Nate getötet.
Nate war tot.
Leise sagte ich diese Worte immer wieder vor mich hin und hoffte, dass sie sich früher oder später als falsch erweisen würden. Ich versuchte, mich auf die Motorengeräusche in der Ferne zu konzentrieren, doch ich schaffte es nicht. Wie sollte ich denn jetzt weiterleben? Mein Vater hatte den Jungen getötet, den ich liebte. Vielleicht hatte meine Mutter gut daran getan, ihn wegzuschicken. Vielleicht hätte ich nie nach ihm suchen sollen.
Ein schwaches Licht hinter einer Kapelle riss mich aus meinen Gedanken. Leise ging ich darauf zu.
Da stand Charles mit gefalteten Händen.
Ich wusste nicht, was tun – sollte ich vortreten oder lieber warten, bis er fertig gebetet hatte (oder was auch immer er da tat)? Er bemerkte mich.
»Komm ruhig, Thara«, sagte er.
Ich ging vorsichtig zu ihm, den Blick auf den Stein geheftet, der aus dem Boden ragte. Grabsteine waren eine grausame Erinnerung an diejenigen, die man einmal geliebt hatte.
Als ich neben Charles stand, legte ich den Arm um ihn.
»Es tut mir leid …«
Charles lächelte.
»War es …«, flüsterte ich mit Mühe, »mein Vater?«
Er schwieg, dann drehte er den Kopf zu mir. Er lächelte traurig.
»Ich weiß es nicht. Ich war nicht dabei, als es passiert ist.«
Ich sah ihn an.
»Alle glauben, dass er es war. Sally, meine Mutter …«, sagte ich leise.
»Ich will es nicht glauben«, sagte Charles, und seine Augen leuchteten heller als sonst. Der Schein der Kerzen auf dem Grab spiegelte sich darin.
»Dann bist du nicht böse auf ihn?«
»Ich mochte ihn.« Er nahm ein Taschentuch aus der Jackentasche und wischte sich übers Gesicht. »Du hättest Nate kennenlernen sollen. Er war in deinem Alter, als er von uns gegangen ist. Ihr hättet euch bestimmt gerngehabt.«
Ich betrachtete das Foto auf dem Grabstein.
»Genau darüber wollte ich mit dir sprechen.«
»Worüber?«, fragte er.
»Ich …« Sorgfältig wog ich meine Worte ab, doch es war nicht einfach, sie auszusprechen: »Ich … ich kenne ihn.«
Charles starrte mich an, als hätte er nicht verstanden, was ich gerade gesagt hatte.
»Wenn das ein Scherz sein soll, finde ich ihn reichlich geschmacklos.«
Ich packte ihn an den Schultern und drehte ihn brüsk zu mir.
»Das ist kein Scherz, Charles. Ganz bestimmt nicht!«
An meinem Blick sah er, dass ich ihn nicht auf den Arm nahm und dass meine Augen eine Geschichte zu erzählen hatten. Eine Geschichte, die er, gerade er, schwerlich würde glauben können.
Ich wollte ihm keine falschen Hoffnungen machen, aber er musste es erfahren. Er musste vom Cinerarium erfahren, von Nate, von Ludkar.
Charles setzte sich schwer auf die Erde. Ich tat es ihm gleich.
»Also gut, Thara, ich höre.«
Und ich
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