Ash Mistry und der Zorn der Kobra (German Edition)
angehalten, weil er halb damit rechnete, dass die Tür aufgehen und sie, ihren Schulrucksack über der Schulter, lächelnd nach draußen kommen würde. Doch nie öffnete sich die Tür. Inzwischen nahm er einen anderen Weg zur Schule und vermied ihr Zuhause vollständig. Seit er wieder zurück war, hatte er keine einzige Nacht durchgeschlafen.
Der erste Schultag war für ihn die Hölle gewesen. Wenn er geglaubt hatte, dass einige Wochen seiner Abwesenheit helfen würden, damit die Leute Gemmas Tod hinter sich ließen, hatte er sich gewaltig geirrt. Die Gedenkstätte am Haupteingang war gewachsen und zu dem großen Foto, das die Schule dort aufgestellt hatte, hatten sich viele kleine von Freunden gesellt. Die Wand daneben war übersät mit Botschaften.
Und nach wie vor gaben sie Ash die Schuld an allem. Warum sonst war er verschwunden? Wo trieb er sich herum? Die Gerüchteküche hatte gebrodelt, solange er fort gewesen war. Einige hatten behauptet, die Polizei hätte ihn festgenommen oder dass er auf der Flucht sei, weil er Gemma umgebracht hatte. Andere waren auf die Idee gekommen, dass er untergetaucht war, um möglichen Vergeltungsschlägen zu entrinnen. Jack hatte sein Bestes gegeben, um die gesamte Schule aufzuhetzen, bis alle davon überzeugt waren, dass Ash ein Mörder war, auch wenn ihm das keiner ins Gesicht sagte.
Wenn die wüssten , dachte Ash.
Josh, Akbar und Sean machten gewisse Anstalten, ihn wieder in ihren Kreis aufzunehmen. Doch selbst Josh, sein ältester Kumpel, hatte fast eine ganze Woche gebraucht, bevor er wieder mit ihm geredet hatte. Und immer noch sah er Ash an, als würde er ihn nicht wirklich kennen.
Ash stand auf und trat an seinen Schrank. Er griff an die Rückwand und holte ein altes Buch hervor, Die Geschichte Indiens . Er schlug es auf und nahm den Koh-i-Noor aus der Vertiefung, die er in die Seiten geschnitten hatte.
Was sollte er damit anstellen? Er konnte schlecht zur nächsten Polizeiwache gehen und behaupten, er hätte einen der Kronjuwelen auf der Straße gefunden. Das Teil wog noch immer mehr, als es sollte: als wäre das Innere mit Blei gefüllt.
Über den Teppich im Flur schlurften Schritte.
»Warum kommst du nicht einfach rein, Lucks?«
Vorsichtig, um ihre Eltern nicht zu wecken, öffnete Ashs Schwester die Tür und schlüpfte in sein Zimmer. Sie entdeckte den Diamanten in seiner Hand. »Schon wieder schlecht geträumt?«
»Ashoka lässt mich nicht in Ruhe.« Er hielt ihr den Diamanten unter die Nase. »Es liegt daran. Er will, dass ich irgendetwas damit mache.«
»Und was?«
»Vielleicht hätte ich ihn in Lanka lassen sollen. Aber jetzt ist es zu spät.« Er schloss die Finger um den Stein und drückte zu. Ob er ihn zerbrechen könnte, wenn er es mit aller Kraft versuchte? Vielleicht, vielleicht auch nicht – am Ende würde er sich noch einen Splitter einhandeln, der in seiner Haut stecken blieb. Und was dann passieren konnte, hatte er am eigenen Leib erlebt, als er nicht sorgfältig genug mit einem Aastra umgegangen war.
»Was ist mit Parvati? Hat sie keine Idee gehabt?«
Ja, was war mit Parvati? Nach Lanka hatte irgendwie eine komische Stimmung zwischen ihnen geherrscht. Khan war gerade lange genug geblieben, um jede Menge Lob einzuheimsen, bevor er klammheimlich abgehauen war. So waren Tiger nun einmal. Ash und John waren zurück nach Kalkutta gereist, während man für sie die Weiterflüge arrangierte: einen nach London für Ash und einen nach Kaschmir für John.
Dann hatte Parvati sich verabschiedet und damit war die Sache erledigt. Sie wollte weiter Jagd auf Savage machen und hatte Ash das stillschweigende Angebot gemacht, zu bleiben und ihr dabei zu helfen. Doch wenn er ganz ehrlich war, hatte Ash die Nase gestrichen voll von alldem. Bei dieser ganzen Sache war nichts Gutes herausgekommen, höchstens vielleicht für Parvati. Ash hatte mit einem mulmigen Gefühl beobachtet, wie sich immer mehr Rakshasas um sie scharten. Sie blickten sie mit so viel Hochachtung an, dass es schon an Anbetung grenzte – genau, wie sie einst ihren Vater verehrt hatten. Und daran wollte Ash nun wirklich nicht erinnert werden.
»Wir haben nicht viel über den Diamanten geredet«, sagte er nun zu Lucky. »Ich glaube, sie war froh, ihn loszuwerden.«
Lucky zog ein nachdenkliches Gesicht. Ihr war deutlich anzumerken, dass sie sich Sorgen machte. Und Ash wusste auch, warum. Er sah wie der wandelnde Tod aus – dürr und mit schwarzen Ringen unter den Augen. Etwas zerfraß ihn
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