Ashby House
stapfen, und so griff ihre Erinnerung nach dem nächstbesten Lied, bei dem es sich ausgerechnet um einen alten Hit der Ramones handelte, der kaum dazu angetan war, das angstverursachende Thema zu wechseln. »I don’t want to be buried in a pet cemetary – I don’t want to live my life again«, sang sie lautlos und in Endlosschleife, da dies die einzigen Zeilen waren, auf die sie sich besinnen konnte.
Als die riesigen Findlinge in Sicht kamen, mit denen der Eingang zur alten Mine verschlossen war, biss sie sich auf die Lippen, denn die Erinnerung an ein ganz anderes Grab überfiel sie. Hier waren Kinder verschüttet worden. Hatte man sie beerdigt? Oder hatte man sich die Arbeit gespart, da die Mine dies bereits erledigt hatte?
Mit angelegten Ohren schritt Mowgli voran und schaute sich in regelmäßigen Abständen um, ob seine Herrin ihm folgte. Der Steinbau schien die Kälte der vergangenen Tage gespeichert zu haben und jetzt abzustrahlen. Die Bewegunghatte dafür gesorgt, dass Laura nicht fror, doch neben der versiegelten Mine, die Stephen Steed an ein Hünengrab erinnert hatte, begann sie zu frösteln und ihren Gang zu beschleunigen, so gut es auf dem matschigen Boden möglich war.
Gerade, als ihr bewusst wurde, wie glücklich sie darüber war, den Hund an ihrer Seite zu haben, blieb er abrupt stehen und starrte gebannt auf eine Stelle im Unterholz. Sie folgte seinem Blick und schaute in die Augen eines entsetzten Fuchses, der exakt in dem Moment in Bewegung geriet, als Mowgli seinen massigen Körper zum Absprung brachte. Der Fuchs verschwand in den Büschen, und der Hund raste hinter ihm her, in kürzester Zeit eine große Entfernung zwischen sich und Laura legend.
»Mowgli!«, rief sie und erschrak über den Sandpapierklang ihrer Stimme. Irgendetwas zwang sie dazu, sich umzudrehen, und sie glaubte zu erkennen, wie einer der gigantischen Felsbrocken verrutschte. Eindeutig war das Geräusch aufeinanderreibenden Steins zu vernehmen, ein ächzendes Mahlen, nur kurz, dann nichts als das Rauschen des Meeres in der Ferne. Sie schaute über die Felder – Mowgli war verschwunden, er hatte sie allein gelassen. Etwa anderthalb Meilen trennten sie von den ersten Häusern St. Justs. Sie raffte ihren Mantel und rannte über die Felder, ohne zurückzublicken. In den matten Beige- und Ockerfarben der Landschaft schimmerte ihr Haar wie eine Mohnblüte.
Es war die vorerst letzte Flucht, die ihr gelingen sollte – denn bekommt man auch das Mädchen aus dem Haus heraus, so ist Ashby House längst in dem Mädchen drin.
KAPITEL 20
Hector Slasher war an diesem Morgen sehr viel früher im »Star Inn« als gewöhnlich. Gerade als er den Kaffee aufgoss, sah er sie durch das Fenster. Ihr Anblick war verstörend, aber sie schien sich dessen kaum bewusst zu sein und bemerkte nicht die entsetzten Blicke der Autofahrer auf ihrem Weg zur Arbeit. Ihr Haar war strähnig, ihr Gesicht bleich, der Mantel von oben bis unten mit Schlamm und Matsch bespritzt. Doch nicht der Dreck war es, der die Aufmerksamkeit auf sie lenkte, sondern das Blut, das von ihren Händen herabrann. In ihren Armen trug sie ein Tier – reglos, blutverschmiert. Es war ein Fuchs.
Er öffnete ihr die Tür, bevor sie die Hand auf die Klinke legen konnte.
»Sein kleines Herz schlägt ganz schnell, Hector. Ich kann es fühlen. Ich konnte ihn doch nicht einfach liegen lassen, ich hätte mich so vor mir geschämt. Wegzulaufen! Ich bin weggelaufen, ich weiß nicht einmal, wovor – es ist, es ist … alles so unwirklich, ich komme damit nicht klar, ich habe Angst, Hector, ich habe ANGST!« In ihren grünen Augen wallten zwei Tränen auf, verharrten kurz auf den Augäpfeln, ergossen sich über ihre Wangen und fielen auf das blutige Fell des verletzten Fuchses. »Angst.«
Härteren Männern als Hector wäre das Herz zersprungen. »Kommen Sie, wir fahren zum Tierarzt!«
Es grenzte an ein Wunder, dass der Fuchs den Angriff des Hundes überstanden hatte. Er hatte mehrere Fleischwunden davongetragen, und sein rechter Vorderlauf war gebrochen. Der Tierarzt wollte keine verbindliche Prognose abgeben, versprach aber, sich mit Slasher in Verbindung zu setzen, sobald sich der Zustand des Tieres verändern würde.
Noch immer benommen, hatte sich Laura in seinen Wagen gesetzt und war mit ihm zum »Star Inn« zurückgefahren. Sie lehnte ein Frühstück dankend ab, ließ sich aber einen Kaffee einschenken.
»Ich nehme an, das war Ihr Hund? Er ist also wieder
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