Ashes, Band 02: Tödliche Schatten (German Edition)
Häuser mit Naturstein- und Ziegelmauern, die aussahen wie nach einem Bombeneinschlag. In der Ferne im Süden und Osten ragten die rostigen Streben eines Fördergerüsts empor. Aber als sie dann den ersten Blick auf den Eingang zum Bergwerk warf, war sich Alex sicher. Das hatte sie auf den Fotos im Haus am See schon gesehen. Warum sich die Veränderten überhaupt versammelten, konnte man nur ahnen, aber falls sie sich gern in vertrauter Umgebung bewegten, dann war nachvollziehbar, dass sie hier zusammenkamen. Offenbar war das ein beliebter Treffpunkt gewesen, und nicht nur für die Jugendlichen aus Rule, sondern auch für die Leute aus den Orten in der Umgebung. Verrückterweise erinnerte sie die ganze Szene an den Hof einer Highschool, wo sich die Schüler drängen, bevor die Glocke zum Unterricht ruft.
Das war’s dann. Sie schleppte sich dahin, folgte Spinne und Leopard, deren Wolfspelze bei jedem Schritt hin und her schwenkten. Eigentlich hätte sie Angst haben sollen, aber sie war zu müde. Die Schultern taten ihr weh von Daniels Gewicht, und sie war schweißgebadet. Die letzten fünfzehn Kilometer hatte sie den halb bewusstlosen, fiebrigen Jungen praktisch getragen. Reglos ließ er sich mitschleppen, seine Stiefel schleiften über den Schnee, als wäre er ein defekter Roboter. Je näher sie der Mine kamen, desto intensiver wurde der Kadavergestank, der wie schwerer Smog in der Luft hing. Von dem öligen Geruch zog sich ihr die Kehle zusammen, sie spuckte aus, versuchte ihn loszuwerden, aber der üble Geschmack klebte ihr förmlich an der Zunge.
Dann erschnupperte sie etwas Neues. Es verflog sofort wieder, herangetragen durch den kleinen Richtungswechsel einer leichten Brise. Wenn man die anderen Eindrücke bedachte – Daniels Krankheit, der Kläranlagengestank und die salzige Schmutzschicht auf ihrer Haut – , war es ein Wunder, dass sie überhaupt noch so flüchtige Gerüche wahrnahm. Nichtsdesotrotz fing sie diesen leisen Hauch auf, erstarrte und vergaß für einen Augenblick sogar Daniel, der fast mit seinem ganzen Gewicht an ihrem Hals hing.
Nein, das kann nicht sein. Alex warf einen raschen Blick in Richtung Westen. Der Mond war noch nicht aufgegangen, aber der Horizont färbte sich verwaschen purpurrot und neonorange. Der Tag erstarb so wie die Brise, und doch kitzelte der Duft sie in der Nase, nur für einen Augenblick: Ein Duft wie morgendlicher Nebel über den dunklen Schatten eines spiegelnden Sees, und ebenso flüchtig.
Chris? Sie bekam einen Kloß im Hals. Vor ihrem inneren Auge tauchte das Bild auf, wie sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte – bewusstlos im blutbespritzten Schnee. Chris lebte noch und sollte ausgerechnet hier sein? Nein, sie musste sich täuschen. Wieder schnupperte sie, aber der Wind hatte sich wohl gedreht, denn der Duft war weg. Sie versuchte zu halten, was noch davon übrig war, rollte es wie einen kleinen Ball im Mund herum. Nein, das war es nicht ganz, oder? Es hatte aber Elemente von Chris. Vielleicht war es der allgemeine Mief der Veränderten, aber der Geruch erinnerte sie an –
Nein. Der Gedanke war so verblüffend, dass sie nach Luft schnappte. Er ist tot. Das kann nicht sein …
Spinne erstarrte jäh. Und einen Augenblick später fuhr Alex ein nadelartig stechender, giftiger Geruch in die Nase. Wut lag darin, Enttäuschung und Furcht. Auch Leopard an Spinnes Seite verharrte reglos. Den Kopf in den Nacken gelegt sogen sie mit offenem Mund den seltsamen Duft ein. Dann drehte sich Spinne um. Ihre silbernen Augen richteten sich funkelnd vor Hass auf Alex. Alex stolperte einen halben Schritt rückwärts, als wäre sie geschlagen worden, und sie hätte sich am liebsten ganz klein gemacht wie ein unbeliebtes Kind, das nicht die Aufmerksamkeit des Klassenrüpels erregen will. Spinnes Wunde war besser geworden, wahrscheinlich weil sie sich für den Weg hierher alle Zeit der Welt gelassen hatten. Leopard und die Gang hatten für Nahrungsnachschub gesorgt, also hatte Spinne seit mehr als zwei Wochen immer gut gegessen, wenn sie sich nicht gerade das Hirn rausvögelte. (Daniels Zimmer zu teilen war in der Hinsicht ein zweifelhaftes Vergnügen gewesen. Aber so wie Leopard sie ständig anglotzte, war Alex froh, dass Spinne ihn beschäftigte. Gott sei ihr gnädig, wenn Leopard sie jemals allein erwischte.) Aber der Riss in Spinnes Wange würde nie ganz verheilen. Ja, sie fand, dass Spinne ein bisschen an den Bösewicht in den Batman-Filmen erinnerte, dem das halbe Gesicht
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