Ashes, Band 02: Tödliche Schatten (German Edition)
Aber wenn einem Mädchen jeden Morgen und sogar den ganzen Tag lang übel war, könnte das einen Grund haben, den ein Mann, der ihr Großvater sein könnte, vielleicht nur ungern zur Sprache brachte.
»Ich glaube, dass sich da wieder ein Sturm zusammenbraut.« Sie zog den Schlafsack so hoch, dass nur noch das bleiche Oval ihres Gesichts zu sehen war. »Nördlich von hier ist der Himmel pechschwarz.«
»Bloß das nicht.« Nathan kratzte mit den Fingernägeln über seine grauschwarzen Bartstoppeln. »Wenn wir noch mal festsitzen, haben wir schlechte Karten.«
»Herrgott, es dauert doch schon Wochen . Wie lange denn noch?«, stöhnte Lena.
»Wenn das Wetter mitspielt und wir eine ganze Nacht lang rasten, vielleicht noch zwei Tage. Aber die Veränderten treten hier ziemlich geballt auf, darum sollten wir nicht zu lange an einem Ort bleiben. Lieber kürzere Ruhepausen und abwechselnd Wache schieben. Dann schaffen wir es schneller nach Oren und können uns dort einen Unterschlupf suchen, bis wir wissen, wo wir uns genauer umsehen müssen. Apropos … « Nathan schob ihr die Zeichnung hin. »Kennst du all diese Hexenzeichen?«
»Klar. Ich weiß nur nicht, welche Scheunen welche Zeichen haben.« Noch immer in ihren Schlafsack eingemummelt, legte Lena den Kopf schräg und nagte wieder an ihrer ohnehin schon zerkauten Unterlippe. Hässlicher Schorf bedeckte ihren Mund. »Aber das habe ich Chris ja schon erzählt. Das da nennen sie die ›fünf Wunden‹. Die sieht man oft an Scheunen. Ich weiß nicht, was sie alle bedeuten, aber … na ja.«
»Ah ja, das da kenne ich auch. Die fünf Wunden Christi. Der fünfzackige Stern war ein frühchristliches Symbol, lange vor dem Kreuz«, sagte Nathan. »Ist es immer dasselbe Zeichen?«
Chris schüttelte den Kopf. »Wie schon gesagt, wenn sie wollen, dass ich etwas finde, hinterlassen sie eine Zeichnung im Bücherbus. Dann muss ich nur noch von Scheune zu Scheune gehen, bis ich die richtige gefunden habe. Dauert eben eine Weile.«
»Na, dann würde ich vorschlagen, dass der Bücherbus unsere erste Anlaufstelle ist. Außer wir haben Glück, und sie haben Wachen postiert.« Nathan fasste ihn ins Auge. »Hattet ihr mal so einen Verdacht? Dass euch jemand beobachtet?«
Den hatte Chris sehr wohl gehabt, was jedoch nichts Ungewöhnliches war. Wenn man oft genug aus Rule hinausritt, in eine Gegend, wo sich Plünderer oder Veränderte oder alle zusammen herumtrieben, versuchte man natürlich, die Augen immer überall zu haben. »Klar. Andererseits bin ich bisher nie auf diesem Weg in die Stadt gekommen und habe auch noch nie jemanden mitgebracht – jedenfalls nicht bis zum Bücherbus. Greg und die anderen habe ich immer vor der Stadt warten lassen. Außerdem bin ich früh dran. Möglicherweise finden wir gar nichts.«
»Gott.« Lena stieß einen tiefen Seufzer aus. »Was machen wir dann?«
»In Panik verfallen.« Das war als Witz gemeint, aber da sie nicht lächelte, legte ihr Chris die Hand auf die Schulter. Allerdings gefiel es ihm nicht, dass er sich solche Gesten jetzt immer zweimal überlegen musste. »Was diesmal den großen Unterschied ausmacht, das bist du. Wenn sie dich sehen, wird ihnen hoffentlich klar, dass sie sich gefahrlos zeigen können.«
»Schon möglich.« Lenas Stimme klang so dürr und leblos wie eine vertrocknete Ähre. »Aber so wahnsinnig beliebt war ich nicht.«
»Was ist mit diesem Typen, diesem Isaac Hunter? Du hast ganz bestimmt noch nie von ihm gehört?« Als Lena den Kopf schüttelte, wandte sich Chris an Nathan. »Du musst doch irgendwas darüber wissen. Ja, mir ist schon klar, dass du Jess vertraust, und wenn sie sagt, dass er helfen kann, dann glaubst du das. Aber wir sind nicht mehr in Rule, und Jess gibt jetzt nicht mehr den Ton an. Wenn es auch nur Gerüchte oder unbestätigte Vermutungen sind: Alles, was du über diese Sache weißt, könnte uns weiterhelfen.«
Er beobachtete Nathan, der überlegte. »Der Name sagt mir nichts«, erklärte der alte Mann schließlich. »Aber es gab da mal so eine Geschichte, die kursierte, als ich ungefähr in deinem Alter war, also vor … vielleicht sechzig Jahren?«
»Über Hunter?«
»Nein.« Nathan fuhr sich übers Kinn. »Über diese wilden Jugendlichen. Nein«, fügte er hinzu, als er Chris’ Ausdruck sah, »es ist nicht so, wie du denkst. Wir reden nicht von Aussteiger-Kids oder so was. Es ist etwas, was die Jugendlichen der Amish machen.«
»Du meinst Rumspringa «, sagte Lena und stützte sich auf
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