Ashes, Band 02: Tödliche Schatten (German Edition)
einen Ellbogen. »Das kenne ich.«
»Na, ich jedenfalls nicht«, meinte Chris. Merton lag so weit im Südosten, dass sein gesamtes Wissen über die Amish-People aus Filmen stammte – also gegen Null tendierte. »Was ist das?«
»Ein Brauch der Amish«, erklärte Nathan. »Die sind in vielerlei Hinsicht etwas eigen, so auch, was die Taufe angeht. Ihre Kinder werden nicht nach der Geburt getauft. Vielmehr sollen sich die Menschen ganz bewusst für diese Lebensweise entscheiden, und die Amish glauben, dass man das nur als ein Erwachsener kann, der auch etwas von der Welt gesehen hat. Deshalb gesteht man den Jugendlichen, wenn sie sechzehn sind, alle nur erdenklichen Freiheiten zu. Klingt theoretisch vielleicht ganz gut, ist aber Irrsinn.«
»Wieso?«
»Weil diese jungen Leute von nichts eine Ahnung haben. Keiner von denen hat auch nur einen blassen Schimmer davon, was außerhalb ihrer Siedlungen vorgeht, in der ›englischen‹ Welt, und wenn man sie dann von der Leine lässt, ohne sie irgendwie anzuleiten, drehen sie schier durch.« Nathans Mund verzog sich zu einem schiefen Grinsen. »Ich habe … einige der Mädels kennengelernt. Wir Jungs haben das weidlich ausgenutzt, denn keines von den Mädchen, die wir kannten, ging so weit wie die Amish-Mädchen. Diese Jugendlichen haben richtig die Sau rausgelassen. Rückblickend betrachtet habe ich mich damals nicht gerade wie ein Ehrenmann benommen.«
»Okay, ich glaube, ich hab’s verstanden.« Chris wurde das zu peinlich. Das Letzte, was er hören wollte, war, wie ein Mann aus der Generation seines Großvaters über seine Frauengeschichten in der guten alten Zeit plauderte. »Aber was hat das jetzt mit uns zu tun?«
»Vielleicht gar nichts«, antwortete Nathan. »Bei den meisten Amish-Jugendlichen läuft es letztlich darauf hinaus, dass sie ein paar Jahre rumspringen , bevor sie sich für die Amish-Lebensweise entscheiden. Sie lassen sich taufen, und damit hat sich’s. Aber es gibt auch immer ein paar, die nicht zurückkehren wollen – oder es zwar tun, aber sich danach umentscheiden, was unendlich viel mehr Mut kostet.«
»Mut?«
»Ja«, warf Lena ein. »Wenn sie sich von ihrer Gemeinde lossagen, nachdem sie getauft wurden, werden sie gemieden .«
»Gemieden … « Da klingelte etwas bei Chris. »Ihr meint, so was wie der Bann?«
»Ja, in der Art«, sagte Nathan. »Bei der Meidung wird ein enormer Druck auf die Abtrünnigen ausgeübt. Man redet zwar noch mit ihnen, aber das ist auch alles. Sie dürfen nicht zur Kommunion gehen, nicht am Gemeindeleben teilnehmen und so weiter. Dahinter steckt die Idee, dass sie bereuen und ihre Haltung ändern sollen. Ich weiß nicht, wie viel Zeit man ihnen gibt, bis es endgültig wird.«
»Endgültig? In dem Sinn, dass sie nicht mehr zurückkönnen?«
»Wie bei einer Exkommunikation. Wenn das geschieht, ist man ein Schatten, ein Toter. Diese armen Jugendlichen stehen dann vor dem Nichts: keine Ausbildung, keine Familie, keine Ressourcen, kein Zuhause.« Nathan hielt inne. »Aber es wäre wohl nur natürlich, dass sie zusammenhalten und einander zu helfen versuchen.«
»Wie früher das Netzwerk der Sklaven in den Südstaaten.« Allmählich dämmerte es Chris. Seine kleinen grauen Zellen arbeiteten, zogen Schlüsse, stellten Zusammenhänge her. »Ist es das, wonach ich suche?«
»Na ja.« Nathan machte eine Pause. »Jess meint, dass du es schon gefunden hast. Zumindest ansatzweise.«
»Ich versteh bloß Bahnhof«, sagte Lena.
»Eine Ausreißergruppe. Eine Gemeinschaft von Jugendlichen, die beschlossen haben fortzugehen. Aber zweifellos brauchen sie jemanden, der ihnen hilft, der vielleicht auch weiß, was sie durchmachen, weil er oder sie selbst exkommuniziert worden ist … « Chris verstummte, als aus dem Chaos, das seit Wochen in seinem Kopf tobte, ein neuer Gedanke aufblitzte. Er schaute Nathan an. »Sie sind auf Hilfe angewiesen.«
»Das hast du eben schon gesagt«, stellte Lena fest.
» Jess «, sagte Chris.
»Wie bitte?«
»Ich meine, Jess muss eine von ihnen gewesen sein.« Wieder richtete er den Blick auf Nathan. »So ist es, habe ich recht? Sie ist eine Amish oder war es mal.« Als er Nathans Zögern bemerkte, setzte er hinzu: »Na, komm schon. All diese Einzelheiten konnte sie nur kennen, weil sie bei ihnen gelebt hatte. Sie hat dir ja sogar einen Namen genannt.«
Bedächtig und beinahe widerwillig nickte Nathan. »Im Prinzip, ja.«
»Im Prinzip?«, fragte Lena. »Warum habt ihr denn so ein Geheimnis
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