Ashes, Band 02: Tödliche Schatten (German Edition)
von Säure weggeätzt wurde, sodass man die nackten Zähne, Knochen und Muskeln sah. Two-Face?
In diesem Moment spürte Alex, wie Daniel zuckte und versuchte sich aufzurichten. Seine Augen unter den flatternden Lidern waren trübe, sein Atem roch nach Erbrochenem. »Wuhhh?«
»Daniel?« Er hatte den ganzen Tag nicht viel gesagt. Sie schüttelte ihn sanft. »Daniel, ich bin’s, Alex. Kannst du … ?«
»Uhhh«, stöhnte Daniel, und dann gaben seine Knie nach.
»Nein, nein«, sagte sie und zerrte ihn wieder hoch. »Komm schon. Versuch zu laufen, Daniel. Wir sind fast da, bald kannst du dich ausruhen.« Sie sah, dass Spinne und Leopard sich wieder in Bewegung gesetzt hatten, aber die beiden machten sich offenbar Sorgen. Ihr Geruch prickelte wie Kohlensäurebläschen in Alex’ Nase.
Jetzt sah Alex den Eingang ganz deutlich: ein Schlund, gespickt mit Eiszapfen, bereit, sie lebendig zu verschlingen. Sein Atem war ein muffiger Nebel aus kaltem Gestein, aus Tod und Blut, Schweiß und Ausdünstungen vieler anderer Gefangener, die sich da unten befinden mussten. Und dem Gestank der Veränderten.
Sie rückte sich Daniels Gewicht auf ihren Schultern zurecht. Hinter sich hörte sie die trägen, schlurfenden Schritte der älteren Gefangenen, die nach und nach aufholten und an ihr und Daniel vorbeitrotteten. Keiner sah sie an. Die letzten zwei Wochen hatte Alex praktisch abgeschieden mit Daniel verbracht, sodass sie keine Gelegenheit gehabt hatte, die anderen kennenzulernen, und sie hatten sich ebenfalls ferngehalten, zumal Daniel ja so krank war. Sie wusste nicht, ob sie ihnen daraus einen Vorwurf machen sollte.
Wenn ich da reingehe, komme ich nie wieder raus. Das, dachte sie, war ihre letzte Chance. Renn um dein Leben, jetzt oder nie. Sie beobachtete die Veränderten, die sich vor dem Eingang herumtrieben. Gut und gern an die fünfzig, alle bewaffnet, obwohl sie halbwegs sicher war, dass niemand auf sie schießen würde. Spinne hatte andere Pläne.
Außerdem, wenn sie es irgendwie an all den Veränderten vorbei schaffte, wohin sollte sie dann fliehen? Nach Rule? Zu Chris? Nein. Sie würde es weder dahin noch dorthin schaffen. Das war ihr klar, weil sie ihn gerochen hatte, genau wie Spinne und Leopard, in diesem flüchtigen Lufthauch. Und Alex wusste nicht recht, was sie davon halten sollte und was es zu bedeuten hatte.
Denn der da draußen war nicht Chris.
Sondern Wolf.
70
U nd sie hinterlassen immer ein Symbol?« Nathans Gesichtshaut war so gespannt, dass seine Wangenknochen scharf wie Messerklingen hervortraten. »Nie einen Namen oder eine Adresse?«
»Nein, immer ein Hexenzeichen«, antwortete Chris und presste dabei einen Finger an die Schläfe, um einen hartnäckigen Kopfschmerz wegzumassieren. Der rote Strich auf dem Mini-Thermometer an seinem Rucksack erreichte gerade den Gefrierpunkt, aber es wurde dunkel und außerhalb des Zweimann-Zelts fiel die Temperatur rasch ab. Während er sich tiefer in seinen Schlafsack vergrub, deutete er mit dem Kinn auf eine Buntstiftzeichnung, die ein grob skizziertes blau-rotes Pentagramm vor einem weißen Kreis darstellte. »Auch die Farben haben eine Bedeutung, denn als ich das erste Mal in eine Scheune gekommen bin, wo dasselbe Symbol, aber mit anderen Farben hingemalt war – der Hintergrund blau und der Stern rot und weiß – , war sie leer.«
Ein Reißverschluss surrte, und er sah auf. Der Zelteingang verdunkelte sich, dann kroch Lena durch die zweigeteilte Öffnung und brachte einen Schwall eisiger Luft und einen ganz schwachen Hauch bitterer Galle mit.
»Kalt.« Ihr Atem dampfte. Schnell zog sie den Reißverschluss wieder zu und kuschelte sich in den noch verbliebenen Schlafsack. »Fühlt sich an wie fünfzig Grad minus da draußen, und windig wird es auch.«
Nathan zupfte an seiner rechten Wange. »Ist alles raus, was keine Miete zahlt?«
»Ha. Ha.« Lenas Nasenspitze war vom Wind gerötet, aber ihr Gesicht wirkte beinahe transparent. »Den Spruch hab ich zuletzt in der Grundschule gehört.«
Nathan breitete die Hände aus. »Wollte nur für ein bisschen Aufheiterung sorgen.«
Chris schwieg. Sie waren alle erschöpft, aber Lena ging es immer schlechter, und ihr Atem roch stark nach Erbrochenem. Angst kroch ihm in den Nacken. Je länger wir unterwegs sind, desto schlimmer wird es werden. Wie lange soll ich noch tun, als ob nichts wäre? Andererseits könnte er sich natürlich irren. Nathan hatte ebenso viel Erfahrung und sagte trotzdem kein Sterbenswörtchen.
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