Ashes, Band 02: Tödliche Schatten (German Edition)
rollte er es wieder auf und knotete ein zweites, dünneres Seil an dessen Ende. »Ein alter Knacker weniger, um den man sich Sorgen machen muss, wenn ich’s nicht packe.«
»Wofür ist das andere Seil?«, wollte Luke wissen.
»Pass auf, dann lernst du was, mein Junge.« Weller umfasste das Seil mit beiden Händen und suchte sich einen guten Tritt. Dann führte er das Seil unter seinen rechten Stiefel und schlang es über seinen linken, ehe er sich von der Leiter löste. Das Seil quietschte unter der Last, und das Eisen ächzte. Stein prallte gegen Stein, und aus der Tiefe hörte man, wie das herausgebrochene Stück Beton ins Wasser platschte. »Kommt nicht nach, ehe ich drüben bin.«
Worauf du dich verlassen kannst. Tom hielt den Atem an, während Weller sich Stück für Stück abseilte, aber offenbar wusste der Alte, was er tat. Beim Rauf- und Runterklettern an einem Seil ging es nicht um die Kraft in den Armen; die Beine mussten am meisten tun. Als er bei den letzten anderthalb Metern Seil angelangt war, zog Weller die Beine fast bis auf Brusthöhe an.
»Was macht er da?«, fragte Luke.
»Er greift sich das andere Seil.« Tom beobachtete, wie Weller mit einer Hand zupackte. Dann, immer noch mit nur einer Hand an dem tragenden Seil, begann Weller, sich zusammenzuziehen und zu strecken und versetzte sich so durch sein Gewicht in Schaukelbewegung. Das Seil gab ein wimmerndes Geräusch von sich: krii-krii, krii-krii … Immer weiter pendelte Weller hin und her, und dann war er über der Plattform: einmal, zweimal. Beim dritten Mal ließ er los. Sein Sprung war perfekt; das zweite Seil entrollte sich hinter ihm, und er landete mit einem dumpfen Bong in der Hocke, fiel auf die Knie und erhob sich schließlich taumelnd.
»Ein Klacks«, sagte er, allerdings offensichtlich außer Atem. »Einen Moment.« Weller wickelte das zweite Seil ganz ab, ging rückwärts und band das Ende dann an eine Plattformstütze.
»Wow.« Luke war schwer beeindruckt. »Er hat eine Seilbrücke gemacht.«
»Benutzt Hände und Füße«, sagte Weller, und der Schacht warf das Echo seiner Stimme zurück. »Es hat genug Spiel, dass man sich mit den Füßen gut einhängen kann. Nur nicht nach unten schauen.«
Leichter gesagt als getan. Tom war schon auf halber Strecke schweißgebadet, presste das Seil gegen die Brust, war an der Taille fast eingeknickt, schloss die Füße fest um das Seil. Dann machte er genau das Falsche, er dachte an das Wasser unten und an den Sturz – und spürte, wie ihm kalter Schweiß auf die Stirn trat. Seine Arme zitterten, und er dachte: Ich werde ins Rutschen kommen, und dann falle ich …
»Tom«, rief Weller in scharfem Ton. »Beweg dich! Weiter!«
Das holte ihn zurück. »Geht klar«, keuchte er und schluckte seine Angst hinunter. Den Blick fest auf das Seil gerichtet, versuchte er, nicht daran zu denken, wie viele Meter noch vor ihm lagen. Er hörte, wie Weller über den Metallboden schlurfte, und dann war der Alte neben ihm und half ihm hoch, als Tom auf der Plattform landete. »Danke«, sagte er und nahm einen tiefen Atemzug. In der Luft lag ein leiser Duft nach Rührei. »Ich hatte einen Aussetzer.«
Weller klopfte Tom auf die Schulter. »Den hat jeder mal.«
»Warum gehen wir bergauf?«, flüsterte Luke, während sie im Gänsemarsch durch eine Strecke wanderten. »Müssten wir nicht eher runter?«
»Der Durchlass liegt tatsächlich ein bisschen niedriger als die Ebene, auf der ihr operieren werdet«, brummte Weller. »Aber es ist leichter, die Hunte – die großen Förderwagen – bergab statt bergauf zu befördern.«
»Aber wir kommen schon unterhalb der Chuckies raus, oder?«, fragte Tom. Der Gang war viel niedriger und enger, als er es sich vorgestellt hatte. Er hatte sich eine weite, hohe Decke ausgemalt, stattdessen sah er jetzt Leitungen und Schläuche, die nur einen Meter über seinem Kopf verliefen, und fühlte die drückende Last all dieser Massen von Gestein und Erde.
Und noch etwas fiel ihm auf. Der Boden war keineswegs trocken, sondern von Pfützen übersät. Es herrschte eine hohe Luftfeuchtigkeit, beinahe wie im Dampfbad, und er spürte und hörte das dumpfe Prasseln der Tropfen, die ihnen von der Decke auf Kopf und Schultern fielen. Wir sind unterhalb des Grundwasserspiegels, aber anscheinend ist der Luftdruck so hoch, dass das Wasser nicht weiter ansteigt. Vielleicht befanden sie sich aber nur in einer Art Luftblase, und ringsum war alles mit Wasser gefüllt. Kein angenehmer
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