Ashes, Band 02: Tödliche Schatten (German Edition)
Nacht.
»Okay.« Tyler zögerte, dann meinte er: »Weißt du, ich sehe immer diese alte Dame vor mir. Dann träume ich von dem Feuer und den Tieren, wie sie geschrien haben … und wie die Frau ihr Gewehr nimmt und – «
»Es hat ihr keiner gesagt, sie soll sich die Kugel geben.«
»Aber wir haben ihren Mann getötet.«
»Hey.« Genervt riss Peter einen Tick zu fest am Zügel, woraufhin Fable schnaubte und auf dem vereisten Weg kurz ins Rutschen kam. Die Dead Man’s Alley war steil wie eine Skisprungschanze, führte aber schnell und direkt zum dreißig Kilometer entfernten Rule zurück. Peter wäre dennoch lieber nicht hier unterwegs gewesen, und das aus mehreren Gründen. Zwar konnte er davon ausgehen, dass die Veränderten für heute ruhiggestellt waren, aber ihm gefiel dieser zinngraue Himmel und der Geruch von gebläutem Stahl nicht. Schon seit Wisconsin braute sich ein Unwetter zusammen, das ihnen folgte und sie bald einholen würde. »Der alte Typ hat zuerst geschossen, da hatten wir keine Wahl. Das liegt doch auf der Hand.«
»Aber wir haben ihnen praktisch alles genommen, was sie hatten«, wandte Tyler ein.
»Wer hat gesagt, dass es im Leben gerecht zugeht?«, erwiderte Peter. Der Griff einer Desert Eagle drückte ihm ins Kreuz; er hatte die Pistole einem Mann abgenommen, den er zusammengesunken auf den Stufen eines Wohnmobils gefunden hatte. Oder jedenfalls glaubte Peter, dass es ein Mann gewesen war. Ohne Kopf, mit nur noch einem Fuß und einer Hand, nichts als Haut und ledrige Sehnen, die an langen Knochen hingen wie abgeschälte Rinde an einer Birke. Aber die Waffe war klasse, ein echter Knochenbrecher, sofern man das aus den riesigen Austrittsstellen schließen konnte, die Peter an den zwei in der Nähe liegenden jugendlichen Leichen entdeckt hatte. Die Kids waren ziemlich angenagt, also waren sie wohl keine Veränderten gewesen, denn die wurden von Aasfressern gemieden. Wie auch immer, Peter steckte die Eagle ein und dazu noch ein paar Päckchen Patronen, die er im Wohnwagen gefunden hatte. »Es heißt, wir oder sie. Sicher, es tut mir auch leid wegen der alten Frau und allen, die ich erschießen musste, aber ich habe schließlich eine Verantwortung. Was ich anderen wegnehme, bekommt ihr zu essen.«
Was nicht ganz stimmte. Nicht alles, was sie erbeuteten, landete in Rule, aber den Grund dafür kannte nur Peter. Es war eine scheinbar ganz simple Gleichung: Lebensmittel für Kooperation. Doch dahinter steckte ein schwieriges, genau ausgewogenes Kalkül, von dem ihr Überleben abhing. Peter kümmerte es nicht, wie die Außenposten-Gemeinschaften, die kleinen Siedlungen im Norden und Westen von Rule bestimmten, wem das letzte Stündlein geschlagen hatte – das war ihre Angelegenheit. Egal ob per Lotterie, Abzählreim oder sonst wie. Hauptsache, sie guckten sich irgendeinen aus und setzten ihn vor die Tür, wo ihn … na ja, dasselbe Schicksal ereilte wie jeden, der aus Rule verbannt und in die Zone geschickt wurde. Alle wussten natürlich, dass dort draußen die Veränderten lauerten. Die meisten begriffen nur nicht, warum sie dort blieben.
Was Peter mit den Außenposten ausgehandelt hatte, war aus seiner Sicht eine Sache auf Gegenseitigkeit: Eine Hand wäscht die andere. Er war kein schlechter Mensch, aber eine Abmachung war eine Abmachung, und da konnte man keine Ausnahmen zulassen. Gab man einem den kleinen Finger, wollte er die ganze Hand, und was, wenn die anderen Siedlungen davon erfuhren? Dann brach das ganze System zusammen, und Rule war erledigt.
»Ich weiß, es ist hart«, sagte Peter zu Tyler. »Aber niemand hat behauptet, dass das Ende der Welt ein Zuckerschlecken sein würde. Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.«
»Da hast du wohl recht.« Tyler verstummte kurz und wechselte dann das Thema. »Glaubst du diese Geschichten, dass das Militär Kopfgeldjäger dafür bezahlt, Verschonte zu fangen?«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, antwortete Peter, aber auch das stimmte nicht. Oft war an einem Gerücht mehr dran als nur ein Körnchen Wahrheit. Und dass das Militär dabei eine führende Rolle spielen sollte, überraschte ihn auch nicht sonderlich. Doch wenn nur ein Bruchteil der Gerüchte stimmte, mussten sie Rule ganz besonders im Visier haben. Denn mit rund sechzig Jugendlichen konzentrierten sich dort zu viele auf zu kleinem Raum. Zwar hatten sie die Zone, aber wenn das Militär wirklich anrückte, dann zweifellos mit genug technischem Gerät, um Rule in Schutt und Asche
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