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Ashes, Band 02: Tödliche Schatten (German Edition)

Ashes, Band 02: Tödliche Schatten (German Edition)

Titel: Ashes, Band 02: Tödliche Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilsa J. Bick
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kam dem aber sehr nahe.
    Der Gedanke ließ sie vor Ekel erschaudern und jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken. In der zehnten Klasse in Sozialkunde hatte sie sich mit Gefangenen und Entführungsopfern befasst und was geschah, wenn Geiseln mit den Entführern sympathisierten und deren Sicht der Dinge übernahmen. Dafür gab es auch berühmte Beispiele: Patty Hearst oder die Opfer des schwedischen Banküberfalls, auf den der Begriff Stockholm-Syndrom zurückging.
    Aber ich bin nicht wie die. Das passiert mir garantiert nicht.
    Doch sie spürte die Kraft. Sie ließ sich forttragen zum vertrauten Aroma kühler Nebelschwaden und schwärmender Schatten jenseits des Verwesungsgestanks, genoss es, kostete es im Mund, ließ es sich auf der Zunge zergehen. So nah. Sie schloss die Augen. Ihr Herz pochte. So unglaublich nah. Wenn sie sich vollends gehen ließ, konnte sie sich fast einbilden, dieser Junge wäre Chris, denn sie waren zwei Seiten derselben Medaille, die eine hell, die andere der dunkle Doppelgänger. Und keine war schlecht. Beide gehorchten lediglich ihrer eigenen Natur.
    Aber Wolf ist der Feind. Und das wird er immer bleiben, vergiss das nicht. Am Ende wird er dich umbringen. Er hat keine andere Wahl, denn er handelt seiner Natur gemäß.

23
    Der Samstag war so schnell gekommen, und nun ging dieser allerletzte Tag mit ihm schon beinahe zu Ende.
    Grace warf einen Blick aus dem Panoramafenster. Die Sonne war eher zu erahnen als zu erkennen, nur ein sich verdüsternder Fleck hinter einem dicken Vorhang aus zinngrauen Wolken, die rasch in ein metallisches Blaugrau übergingen, je weiter ihr Blick nach Norden wanderte. Die Lärchen am westlichen Ufer des Odd Lake erschienen vor dem frisch gefallenen Schnee wie ein Dickicht aus dunklen Borsten und senkrechten palisadenartigen Pfählen. Am Tag zuvor war ein Sturm über diesen Teil von Wisconsin hinweggefegt und war nun unterwegs in Richtung Osten, nach Michigan. Allerdings konnte man sich nie sicher sein, ob ein Unwetter nicht plötzlich eine andere Richtung einschlug. Am Lake Superior setzten sich Stürme oft fest. Sie hatte gehofft, das könnte ihn aufhalten, aber er war fest entschlossen aufzubrechen.
    So. Jetzt ist es so weit. Eine Art Henkersmahlzeit , dachte sie und wurde dann ein bisschen ungnädig mit sich selbst. Hör auf, Trübsal zu blasen. Mach es ihm nicht noch schwerer, als es ohnehin schon für ihn ist.
    Nun, wenn es nach ihr ging, würde er zumindest mit einem vollen Bauch losziehen. Es war fast alles fertig: Kartoffeln, ein Hirschsteak, drei Bratäpfel und eine Schüssel mit schönem Maisbrot. Was noch fehlte, war nur der Kuchen, und der war eine echte Herausforderung. Grace beäugte den schweren gusseisernen Schmortopf inmitten der glühenden Kohlen. Die Verbrennungsgeschwindigkeiten waren nicht gleich, es kam auf die Form der Kohle an. Wärme war die Umwandlung mechanischer Energie in thermische Energie, aber die Temperatur wurde von kinetischer Energie bestimmt. Ganz schön kompliziert.
    So viel Aufwand, aber wenn sie sich seinen Gesichtsausdruck vorstellte, war das allein schon die Mühe wert. Den Tisch schmückte Lametta von irgendeinem lang zurückliegenden Weihnachten. Für den Schal und die vier Paar Wollsocken, die sie heimlich gestrickt hatte, hatte sie ein uraltes Geschenkpapier ausgegraben. Und aus den Überresten hatte sie ein glitzerndes silbernes Banner mit seinem Namen – seinem echten Namen – in großen ausgeschnittenen Lettern darauf gebastelt.
    Natürlich hatte sie es immer gewusst. Auch wenn ihr immerzu Zahlen durch den Kopf schwirrten, war sie deswegen nicht weggetreten. Sie tat nur manchmal so. Grace war noch nie dumm gewesen.
    Wie an jenem Nachmittag vor fünf Jahren, als die Marines an ihre Tür klopften.
    Die Wahrscheinlichkeit, dass sie nur auf einen Kaffee und einen Streuselkuchen vorbeikamen, war nicht gerade hoch. Ein sehr netter Unteroffizier fing sie auf, als sie zusammenbrach. Sie entschuldigte sich, aber der Offizier meinte, wenn einem das Herz bricht, bricht auch alles andere weg.
    Sie drehte die Sanduhr um und malte noch einen Strich auf den Schnipsel von einem alten Kuvert. Dann vertiefte sie sich in den Anblick der Körnchen, die lawinenartig von dem Miniaturgebirge abbröckelten. Ein Körnchen war einen Millimeter groß; auf das Volumen hochgerechnet waren das dreitausend Körnchen pro Drei-Minuten-Eieruhr, tausend Körner in der Minute, sechzehn Komma sechs, sechs, sechs Periode Körner pro Sekunde

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