Ashes Bd. 1 Brennendes Herz
bitteren Zug um den Mund. »Wenn ich mich einer Gehirnwäsche unterziehen und meine Erinnerungen auslöschen könnte, würde ich es machen. Da wäre mir eine Last von den Schultern genommen.«
»Darauf würde ich nicht wetten«, meinte Alex.
58
E s fiel noch mehr Schnee. Thanksgiving kam und ging, die Wochen verflogen, und dann waren es nur noch zwei Tage bis Weihnachten. Alex sah, wie das Zeitfenster für ihre Flucht immer enger und kleiner wurde, sich zusammenzog wie damals ihr Sichtfeld, als sie an jener Tankstelle beinahe erwürgt worden wäre. Sie gab nicht auf, nicht im eigentlichen Sinne, aber mit jedem Tag, der verstrich, erschien ihr die Flucht schwieriger und weniger dringlich, als ob ihr Wille allmählich unter all dem Schnee erstickte.
Und war es hier denn wirklich so schlecht? Achthundert Kilometer nach Kanada, das war eine lange Strecke, vor allem wenn man nicht wusste, was man suchte oder auf wen man wartete, und wenn zudem Veränderte und verzweifelte Menschen dort draußen lauerten. Hier machte ihr keiner wirklich Ärger. Einen Ort, an dem sie besser aufgehoben war als hier, würde sie wohl nicht mehr so leicht finden.
Nein, sie hatte das Handtuch noch nicht geschmissen. Sie hatte Sachen beiseite geschafft und in einem alten Futtereimer versteckt, der an einem Balken in der dunkelsten Ecke von Honeys Stall hing. Jeder Gegenstand, den sie hinzufügte – ein Seil, ein Streichholzbriefchen, ein Glas Erdnussbutter, ein Skalpell, das sie im Hospiz eingesteckt und im Futter ihrer Jacke hatte verschwinden lassen – fühlte sich wie ein Triumph an, aber nur für kurze Zeit. Ein Strohfeuer, ein fehlgezündetes Römisches Licht. Bei diesem Tempo würde sie den ganzen Winter hier verbringen – oder so lange, bis das Monster in ihrem Hirn keine Lust mehr hatte, sich tot zu stellen. Na ja, vielleicht war es ja gar keine schlechte Idee, bis zum Frühling zu warten. Sie wollte doch nicht wirklich bei all diesem Schnee losziehen, oder? Da würde sie sich nur Probleme aufhalsen, auf die sie gut und gern verzichten konnte.
Ihr Leben folgte einem eigenen Rhythmus: die Arbeit mit Kincaid, Hausarbeiten bei Jess, Spazierritte mit Chris. Sie fühlten sich wohl, wenn sie zusammen waren. Vielleicht hatten sie sich sogar ein bisschen angefreundet, aber nicht richtig. Nach diesem Abend bei Jess hatte Chris sich wieder in sein Schneckenhaus zurückgezogen und in Schatten gehüllt, als wäre ihm etwas peinlich, als fürchtete er, zu viel gesagt zu haben. Das war Alex nur recht. Sie hatte ja selbst ein paar Leichen im Keller und zudem ein Monster im Dachstübchen. Eigentlich wollte sie Chris gar nicht näher kennenlernen. Sie wusste sogar, warum. Tom hätte genauso gehandelt. Es war, als würde man dem Feind ein Gesicht geben. Und dann schaffte man es nie mehr abzudrücken.
Aber sie bekam Angst. Sie begann Ellie und Tom zu vergessen.
Nachts, wenn Sarah schlief, lag sie still da und versuchte das ferne Gewehrfeuer auszublenden und Toms Gesicht, seinen Geruch, einen aufblitzenden Moment heraufzubeschwören … irgendetwas. Doch je mehr sie sich anstrengte, die Erinnerungen festzuhalten, desto mehr zerplatzten sie bei jedem Gewehrschuss wie Seifenblasen. Sie hätte ebenso gut versuchen können, eine Handvoll Nebel zu erhaschen. Ellie war nur noch etwas verschwommen Pinkfarbenes.
Diese vergeblichen Bemühungen machten sie krank und weinerlich, und sie kaute dabei auf der Innenseite ihrer Wange, bis sie Rost schmeckte. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr, was vielleicht gar nichts mit dem Monster zu tun hatte. Was war aus der Alex geworden, die sich die Asche geschnappt hatte und einfach losgezogen war? Die zu Dr. Barrett gesagt hatte: Jetzt bestimme mal ich, wo’s langgeht . Sie hatte nicht die leiseste Ahnung.
Möglicherweise war es ja Rule, dieser Ort, der sie mit seinem Versprechen auf Sicherheit tötete. Sie kauerte in der Ecke wie ein Kaninchen, das hoffte, nicht entdeckt zu werden. Vielleicht ließ sie sich von Rule anstecken: sich ihres Willens berauben, ihrer Persönlichkeit, ihrer Vergangenheit, ihrer Zukunftsträume.
Dem Monster hätte sie das niemals erlaubt, und es gab viele Arten, dagegen anzukämpfen. Warum also tat sie es nicht?
Weil sich etwas veränderte. In ihr. Wieder einmal. Sie fühlte es in diesem langsamen, allumfassenden Abgleiten in eine Art stummes Dulden.
Genau wie damals nach der Diagnose. Diese berühmten fünf Phasen des Sterbens. Erst war ich entsetzt, dann sauer, dann habe ich gekämpft
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