Ashes - Ruhelose Seelen (German Edition)
rutschen, als die Eisplatte, auf der sie lag, der Schwerkraft folgte.
Die Eisschicht, an die sich Alex klammerte, nahm mehr und mehr Fahrt auf und schlitterte bergab. Alex verlor den Ski, die Platte fing an, wie ein Kreisel herumzuwirbeln. Mit einem Schreckensschrei stellte sie fest, dass sie auf den Abhang zuraste. Das Schneefeld nahm sie nur noch verschwommen wahr; hinter ihr, über ihr kollabierte der Berg. Sie hatte keine Ahnung, wo die anderen waren und was mit Wolf passierte. Ihr blieb nur Zeit für einen einzigen Gedanken: Nein!
Unter tosendem Donner brach der Berghang ab und stürzte in einer Lawine aus Schnee, Eis und Stein, die alles erzittern ließ, in die Tiefe.
Und riss Alex mit sich.
10
»Das war das zweite Mal«, meldete sich Kincaid zu Wort. Er stand an der gegenüberliegenden Wand zwischen zwei vor sich hinmümmelnden Tattergreisen, die als Gefängniswärter dienten. Der alte Arzt drehte sein zerfurchtes Gesicht erst nach links, dann nach rechts, als suchte er etwas in den dunklen Ecken des ehemaligen Stalls, und hob dabei das Kinn wie ein Bluthund, der Witterung aufnahm. »Ich hab’s gespürt«, sagte er und wandte sich an die beiden betagten Wärter. »Ihr auch?«
Keiner antwortete. Wenn Greg und Pru oder Aidan mit seinen Lakaien nicht dagewesen wären, hätten die beiden Alten vielleicht etwas gesagt. Vielleicht aber auch nicht. Nachdem der Rat entschieden hatte, dass ein Arzt zu kostbar war, um ihn mit dem Bann zu belegen oder hinzurichten, wurde Kincaid zu einem Geist erklärt, einem Unberührbaren, mit dem man nichts zu tun haben wollte, außer wenn es unvermeidbar war.
»Halt’s Maul, alter Trottel«, erwiderte Lucian, wobei der silberne Stecker seines Zungenpiercings an seine Zähne schlug. Schorf bedeckte seinen halbkahlen Schädel. Greg überlegte, ob dem Kerl nicht eines Tages bei seiner Schädelrasur die Hand ausrutschen und er sich eine Schlagader durchschneiden könnte; damit würde er allen einen großen Gefallen tun. »Ich hab nichts gespürt«, sagte Lucian. »Und gehört hab ich auch nichts. War wohl nur der Typ hier, der rumgehopst ist, oder die Musik.«
»Nein, das glaube ich nicht.« Kincaids Augen richteten sich auf Greg. Besser gesagt: sein eines Auge. Das linke. Denn das rechte hatte er nicht mehr. Aidans Machwerk. Greg vermutete, dass Kincaid absichtlich keine Augenklappe trug. Als wollte er Greg zwingen, genau hinzusehen, was sie ihm angetan hatten. Am schlimmsten hatte es in der ersten Woche danach ausgesehen, als die Wunde noch offen war und Blut aus der Augenhöhle tropfte. »Das Geräusch kam von Süden.« Das rosafarbene Fleisch in Kincaids Augenhöhle zuckte. »Vielleicht sollte jemand nachsehen …«
»Bist du taub, Alter? Wir haben zu tun, und du bist gar nicht da. Es sei denn …«, Aidan bedachte Kincaid mit einem hinterhältigen Grinsen, »… du hast ein Problem mit deinem anderen Auge. Soll ich’s dir auch rausnehmen und mir mal anschauen?«
»Na, na«, sagte Kincaid begütigend, »wenn du das tust und dann mal angeschossen wirst oder dich verletzt, Aidan, könnte ich nur noch nach Gefühl operieren. Und ich würde nicht darauf wetten, dass das gut …«
Ein abruptes Zischen, etwas sauste durch die Luft. Dann ein Schnalzen, das Greg zusammenzucken und Pru aus seiner buckligen Haltung auffahren ließ, während sich Kincaid ächzend vor Schmerz krümmte. Direkt unter seinem verbliebenen Auge klaffte eine grellrote Wunde.
» Mensch Aaaalter! «, johlte Sam, und Lucian lachte sich fast kaputt. Die zwei mümmelnden Wachen stoben auseinander wie aufgescheuchte Hühner, gingen auf Distanz zu dem Mann, den sie früher wahrscheinlich als Freund bezeichnet hatten.
»Aidan, hast du sie noch alle?« Ungeachtet seiner Kopfschmerzen machte Greg einen Schritt vorwärts, hielt aber inne, als Pru ihn mit seiner mächtigen Pranke am Handgelenk packte, zu Aidan herübernickte und warnend den Kopf schüttelte. Was er damit meinte, lag auf der Hand, aber dass Aidan ihren einzigen Arzt fertigmachte, brachte gar nichts. Greg befreite sich aus Prus Griff. »Doc, bist du okay?«
»Natürlich ist er okay.« Aidans Lippen entblößten braungelbe Zahnstummel. Was immer Aidan wichtig gewesen sein mochte, bevor die Welt zugrunde ging: Mundhygiene hatte auf seiner Liste nicht sehr weit oben gestanden. »Hätte ich es anders gewollt, sähe er jetzt schlimmer aus.«
»Ja, das alte Arschloch kann sich glücklich schätzen, dass ich ihm nicht die Zunge mit dem Drahtschneider
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