Ashes - Ruhelose Seelen (German Edition)
rennen, rennen: den Hang queren, aus der Falllinie und der Gefahrenzone heraus und nichts wie weg.
Aber Wolf ist bewusstlos. Der ganze Hügel bricht zusammen.
Na und? Das war ihr Hier-und-Jetzt-Denken, eine Stimme, fest verwurzelt in einer Welt, in der es nur Schwarz und Weiß, Gut und Böse gab. Spinnst du? Vergiss ihn. Herrgott, er ist ein Monster. Schnapp dir die Waffe und hau ab, jetzt sofort!
»Ach, halt die Klappe«, sagte sie zu sich selbst. Diese Welt gab es seit dem EMP nicht mehr. Nichts war mehr schwarz oder weiß. Also riskierte sie einen Blick zurück – und konnte einen Schrei nicht unterdrücken.
Was immer es vorhin gewesen sein mochte: Das Loch, durch das sie vor wenigen Minuten herausgekommen waren, hatte sich völlig verändert. Es war jetzt ein Spalt, der sich mit jeder Sekunde vergrößerte, während das Innere des Berges – und die ganze Mine – in sich zusammenkrachte. Was dort hinter ihr lag, war ein schwarzer, schleichender Wundbrand auf der Erde. Es war das Maul eines Monsters, das die Oberfläche verschlang und Wolf immer näherkam.
»Wach auf! Wolf!« Sie wirbelte herum zu der Waffe, ihre Hand schnellte vor – und schnappte sich stattdessen einen Ski. Dann machte sie einen Satz in Richtung Krater. »Wolf, wach auf, wach auf! «
Sie kroch auf ihn zu, robbte über den Schnee, kämpfte mit panischer Kraft gegen die Erdstöße an. Kurz hinter Wolf begann der Berg zu zerbröckeln, Schnee türmte sich auf und brach in sich zusammen. In der Luft lag ein Nebel aus zermahlenen Stein- und Eispartikeln, die an Alex’ Wangen pickten.
Unterdessen plapperte die in der Schwarz-Weiß-Welt lebende Stimme in ihrem Kopf unverdrossen weiter: Was tust du da, spinnst du, bist du verrückt? Sollen sich doch seine Jungs um ihn kümmern. Verschwinde von dem Berg! Schnapp dir die Waffe, und nichts wie weg, weg, weg!
»Wolf!« Diesmal glaubte sie zu sehen, dass er den Kopf bewegte. Sie war jetzt nur noch drei Meter entfernt. Weit genug. Noch immer auf dem Bauch liegend, grub sie ihre Stiefelspitzen in den Schnee, packte den Ski am hintersten Ende und schob ihn in Wolfs Richtung. Wenn sie Wolf dazu brachte, aufzuwachen und sich an dem Ski festzuhalten, müsste es genauso funktionieren, wie wenn man jemanden von dünnem Eis holt. Dann musste sie einfach nur rückwärts robben und ihn von dem Loch wegziehen. Damit hätte er eine reelle Chance.
Und das war’s. Dann sind wir quitt. »Wolf, komm!«, brüllte sie ihm über das Poltern von Steinen und das unterirdische Krachen hinweg zu. »Steh auf, wach auf!«
Als Antwort kam ein Rumpeln – aber nicht von vorn, sondern von hinten, wo sie hergekommen war. Sie warf einen hastigen Blick über die Schulter und sah gerade noch, wie der Schnee unter dem Gewehr wackelte. Einen Moment später begann die Waffe zu rutschen und segelte auf einer Schneewoge hinab, flog über den Rand des Abhangs und verschwand. Wäre Alex noch dort gewesen, wäre mit ihr dasselbe geschehen – was immer noch passieren konnte.
Sie spürte ein Zucken und drehte den Kopf. Wolf war wach, lag auf dem Bauch und klammerte sich an den Ski. Es war komisch, aber sie wusste selbst nicht, warum sie Wolf das Leben zu retten versuchte – nur dass sie es tun musste . Mochte es auch unlogisch sein, es war trotzdem richtig. »Mach schon, Wolf, verdammt. Beweg deinen Arsch!«
Endlich begann er von der Spalte wegzukriechen, schob sich vorwärts, wobei ihm der Ski Halt und Führung bot, während Alex rückwärts kroch, zwei Meter, drei Meter. Nur noch ein bisschen, du kannst es schaffen. Inzwischen bebte der ganze Berg; sie spürte den Schnee vor ihr wegrutschen, die Erdstöße an ihrem Bauch. Dann lasse ich los, und das war’s, ich …
Im nächsten Augenblick hob sich die Oberfläche, als holte die Erde ganz tief Luft. Als Alex es merkte, dachte sie nur: Ach du Scheiße. Entgegen aller Vernunft blickte sie zurück zum anderen Ende des Skis, zu Wolf, diesem Jungen mit dem Gesicht von Chris, der sie in die Hölle gebracht und aus einer anderen Hölle befreit hatte. Ihre Blicke kreuzten sich, und sie sah ihre eigene Angst widergespiegelt in seinen Augen, als Abbild in seinem blutverkrusteten Gesicht. »Wolf …«, begann sie.
Plötzlich sackte die Erde in sich zusammen. Der Riese atmete aus, und Alex stürzte nach unten. Die Wucht, hart und schnell wie ein Faustschlag, presste ein Keuchen aus ihrer Brust. Vereister Schnee zerbarst und zersplitterte wie dickes Glas. Sie begann, seitwärts zu
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