Ashes - Ruhelose Seelen (German Edition)
wache aus diesem Albtraum nie wieder auf, weil ich nie schlafe. »Chris … Gott … hilf mir.«
»Ich werd dir schon helfen.« Wieder hämmerte Lang gegen die Gitterstäbe.
»Ich helfe dir.« Ruhig wie eh und je, wirkte Chris’ Stimme wie ein kühles Tuch auf einer heißen Stirn, wie Wasser in der Wüste. »Aber du musst zuhören. Du musst mir vertrauen und tun, was ich dir sage.«
Chris war genauso wenig hier wie Simon. Sie waren Halluzinationen. Auswüchse der Vergangenheit, eine Folge seiner Entscheidungen und Augen wie Löcher im Stein und schwarzes Wasser, so tief und still wie ein Grab. Ausdruck seiner inneren Zerrissenheit. Doch wenn Chris die Stimme der Vernunft war, ein notdürftiger Halt für seinen auf die Größe einer Zehncentmünze geschrumpften Verstand, die ihn beruhigen wollte und ihm zu überleben half … Hör auf diese Stimme, hör genau hin. »Was?«, fragte Peter. »Was soll ich tun?«
»Geh von den Gitterstäben weg, Peter«, sagte Chris. »Lass nicht zu, dass sie dir noch mehr wehtun. Du bist noch nicht stark genug.«
»Ich bin gar nichts mehr.« Langsam tropfte ein heißes Rinnsal seine Backe hinunter. »Ich bin nicht stark. Simon hat recht. Ich bin nichts.«
»Da hast du endlich mal was kapiert«, grölte Lang.
»Du kannst wieder stark werden«, sagte Chris. »Du wirst es schaffen. Aber dazu musst du tapfer genug sein, um diesen Kampf nicht auszufechten.«
»Aber dann falle ich hin«, wandte Peter ein.
»Nur auf den Boden«, sagte Chris. »Vertrau mir, Peter.«
»Oooohhh.« Peter stöhnte. Er machte vier wacklige Schritte zurück, bevor seine Glieder nachgaben und er auf die Knie sank.
»Siehst du?« Lang fuhr seinen Schlagstock wieder ein. »Man darf sich von den kleinen Scheißern nicht unterkriegen lassen.«
Mich haben sie schon untergekriegt. Mit gesenktem Kopf drückte Peter seine Fäuste auf die Augen wie ein müdes Kind, dann stieg all der aufgestaute Kummer in ihm hoch und die Schuld, und er würgte, ein schreckliches Geräusch, das dennoch die Glocken ein wenig dämpfte. Vielleicht hatte Lang recht, und was auch immer Finn getan hatte, würde sich als etwas noch viel Schlimmeres erweisen, sofern das überhaupt möglich war. Das könnte sein, und das machte Peter Angst. Vielleicht war es gut, dass er nicht schlafen konnte, denn was würde aus ihm geworden sein, wenn er aufwachte? Es tut mir leid, Chris, so leid, es tut mir so … «
»Ist schon gut«, sagte Chris wie zu einem kleinen Kind, das sich das Knie aufgeschürft hat. »Schsch, ist ja gut. Du hast dein Bestes getan. Du darfst nicht aufgeben.«
»Aber was ich getan habe.« Peter verbarg sein Gesicht in den Händen. Gott, du wirst mir nie vergeben.
»Zuerst musst du dir selbst vergeben«, sagte Chris, und Halluzination hin oder her, genau das war es, was Peter jetzt hören wollte. Viel später fragte er sich, wer ihm da eigentlich geantwortet hatte.
»Hilf mir«, flüsterte Peter.
»Hilf dir selbst.« Es war Chris’ Stimme und auch wieder nicht. Ein bisschen klang sie wie Simon und dann wieder nicht. Sie war dünn und leise, das ruhige Zentrum des Sturms, das Auge des Hurrikans, wo sich kein Lüftchen regt, eine Blase, in der die Zeit stillsteht. »Nimm dich zusammen. Such ein Versteck.«
»Ein Versteck?«
»Ja, einen besonderen Ort, von dem nur du weißt. Setz Peter da hinein, und dort finde ich dich dann wieder. Warte auf den richtigen Moment.« Eine Pause. »Und jetzt iss, Peter. Vergib dir und lebe.«
»Okay.« Das Wort klang derb, die eigene Stimme weit entfernt. Nachdem er sich die Tränen weggewischt hatte, kroch er auf Händen und Knien über getrockneten Urin und Kot zu dem Fuß, der dalag wie ein vergessener Schuh.
»Nur zu«, ermunterte ihn die dünne Stimme. »Tu, was du tun musst.«
»Okay«, sagte Peter wieder. An dem Stumpf über dem Knöchel klebte geronnenes Blut, magere Muskelfetzen und graue Sehnen ragten heraus. Vorsichtig zog Peter mit den Schneidezähnen an einem Hautfetzen. Erst spürte er einen leichten Widerstand. Dann nahm er die Hände zu Hilfe und zog das Fleisch ab wie von gegrillten Rippchen. Die Haut gab mit einem leisen Zzziiippp nach, ein Geräusch, als ob seine Mutter alte Baumwollunterwäsche zerriss, um sie als Staubtücher zu benutzen – und dann fing Peter an zu kauen.
Es schmeckte unbeschreiblich eklig, wie gammelige Leber, die schon schimmelig geworden war. Doch dieser Geschmack bedeutete Leben.
»Also das «, sagte Segelohr, »ist so verdammt widerlich,
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