Ashford Park
das Clemmie beschämt innehalten ließ. «Bitte.»
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
Jon neigte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Wange. «Halt dich tapfer», sagte er. «Bis später.»
Sie hielt ihn am Ärmel fest, Wolle, die sich weich anfühlte unter ihrer Hand. «Ich wollte nicht kleinreden, dass … ich weiß, dass sie dir auch viel bedeutet hat.»
Jons Gesicht war wie versteinert. «Schönes neues Jahr, Clemmie.»
Und er ging davon, in Richtung der Schlange von Leuten, die darauf warteten, ihrer Mutter an der Wohnungstür ihr Beileid auszusprechen.
Ach, zur Hölle. Zur Hölle mit ihm. Clemmie verließ ihren Posten und ging ins Wohnzimmer. Sie hatte ihre Pflicht getan. Jetzt waren nur noch ein paar Nachzügler übrig, die sich über ihre Silvesterpläne unterhielten, während sie das Büfett abgrasten. Clemmie hasste sie alle. Sie hasste ihre Gefräßigkeit, ihre viel zu starken Parfüms, ihre zu grell gemalten Lippen. Sie hasst sie dafür, dass die über Granny Addie redeten, als hätten sie sie gekannt.
Aber was wusste sie schon? Das, was Jon ihr neulich Abend erzählt hatte, dass Granny Addie ihm praktisch befohlen hatte, die Finger von ihr zu lassen, nein, sie konnte das nicht mit der Großmutter in Einklang bringen, die sie gekannt hatte, die ihr stets geraten hatte, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Clemmie nahm sich eine kleine Quiche von einem silbernen Teller. Sie war längst kalt geworden, der Käsebelag klebrig. Sie zwang sich trotzdem, sie zu essen. Sie schmeckte wie Gummi.
Was wusste sie denn überhaupt von Granny Addie? Nicht genug offensichtlich. Ihre Mutter hatte die Trauerrede gehalten, so klar und ruhig, wie Clemmie es nicht für möglich gehalten hatte. Manches von dem, was sie gesagt hatte, wusste Clemmie, über die Farm in Kenia und Granny Addies Weitsicht, sich den amerikanischen Markt zu erschließen, während viele andere Kaffeepflanzer in Kenia bankrottgingen.
Clemmie hatte weder gewusst, dass ihre Großmutter sich während des Ersten Weltkriegs zur Krankenpflegerin hatte ausbilden lassen, noch dass sie in Nairobi die Gründung eines Entbindungsheims und die Einführung von Krankenpflegekursen unterstützt hatte. Sie hatte nie gefragt, wie sie nach Kenia gekommen oder warum sie statt nach London nach New York übergesiedelt waren. Sie hatte nicht gewusst, dass ihre Urgroßmutter Romane geschrieben hatte und ihr Urgroßvater der Bruder eines Grafen gewesen war. Nichts davon hatte sie gewusst.
Über dem offenen Kamin hing ein Bild von Granny, das in den vierziger Jahren gemalt war, nicht lange nachdem Granny Addie und Grandpa Frederick sich in New York niedergelassen hatten. Clemmie blickte zu ihr hinauf und betrachtete das herzförmige Gesicht, die Haare, die sie immer gleich getragen hatte, die zweireihige Perlenkette um ihren Hals.
«Es ist, als wäre sie noch hier, nicht?» Es war Tante Anna, endlich nicht mehr an der Leine, auf direktem Weg zur Bar. «Dasselbe Essen, dieselben Getränke, derselbe Barkeeper … es ist krank.» Ohne auf den Barkeeper zu warten, griff sie sich eine der offenen Weinflaschen und füllte ihr Glas auf. «Ich warte ständig drauf, dass sie reinkommt und
Überraschung!
ruft.»
«Ich auch», sagte Clemmie. Ihre Kehle war ausgetrocknet und fühlte sich kratzig an. Sie schenkte sich einen Schluck Mineralwasser ein und sah zu, wie die Bläschen aufstiegen und platzten. «Wenn sie doch wirklich käme.»
«Hm», machte Tante Anna. «Ist das alles, was du trinkst? Warte.» Sie goss einen kräftigen Schuss Wodka in Clemmies Glas. «Komm, trink, Kind.
Cin
cin
.»
«Danke.» Clemmie drehte ihr Glas in den Händen. «Ich wusste das alles gar nicht. Dass sie als Krankenpflegerin gearbeitet und in Kenia ein Entbindungsheim gegründet hat … Wirklich erstaunlich.»
«Ja», sagte Tante Anna trocken. «Erstaunlich. Man muss es ihr lassen, sie hat es großartig verstanden, ihre eigene Legende zu schaffen.» Sie hob ihr Glas zu dem Porträt über dem Kaminsims. «Auf Addie. Das größte Manipulationsgenie seit Evita, Gott hab sie selig. Lloyd Webber sollte ein Musical über sie machen. Wir könnten Patti LuPone für die Rolle engagieren. Oder vielleicht Tyne Daly. Es wäre ungefähr so wie
Gypsy
mit englischem Akzent und weniger nacktem Fleisch.»
Das war selbst für Tante Anna ziemlich heftig. Kummer trieb die Leute zu den bizarrsten Reaktionen. Tabletten in Verbindung mit Weißwein auch.
«Möchtest du dich vielleicht setzen?»
Weitere Kostenlose Bücher