Ashford Park
feiner Schauder überlief sie, als er die Innenseite ihres Handgelenks küsste. «Aber zuerst …»
Nein. Schon zehn Uhr, und wenn man Val einmal nachgab, nahm er das immer als Freibrief, das nächste Mal noch dreister zu werden …
Er schlug ihren Ärmel hoch und ließ seine Lippen die zarte Haut ihres Innenarms emporwandern. «Es sei denn, du kannst nicht.»
Sein durchtriebener Blick forderte sie heraus, es zu sagen, zu sagen, dass sie fahren müsse, zuzugeben, dass sie nicht frei war, sondern an einen Mann gekettet, der sie nicht begehrte, und an Kinder, mit denen sie nichts anfangen konnte. Sie wusste, dann würde er sie mit einem Klaps auf die Schulter ziehen lassen. Sie würde auf der Heimfahrt kochen vor Wut und Enttäuschung und ihn umso heißer begehren.
«Du hast die Wahl», sagte er.
Aber so war es nicht. Sie hatte sich schon vor Jahren, als sie mit Marjorie schwanger geworden war, jede Wahl genommen.
«Ganz recht», sagte sie trotzig. «Ich habe die Wahl.»
Sie zog seinen Mund heftig an ihren und schloss die Augen. Blind für den Himmel, das Flugzeug vergessen, küsste sie ihn, als könnte sie ihm das Geheimnis seiner beneidenswerten Unbekümmertheit aus der Seele saugen und sich selbst zu eigen machen. Sie hörte ihn schneller atmen, spürte den schnelleren Puls und genoss den Triumph. Hier wenigstens war sie Meister, nicht er.
Es gab viele Arten zu fliegen.
New York, 1999
A ber ich habe doch die Fotos gesehen», sagte Clemmie. «Die von Granny und Grandpa in Kenia.»
Eins stand im Wohnzimmer auf dem Tisch: Die beiden zusammen auf ihrer Kaffeeplantage, Grandpa Frederick mit Tropenhelm auf dem Kopf und Granny Addie in einer hochgeschnittenen langen Hose. Ein anderes, das früher auf dem Sekretär seinen Platz gehabt hatte, zeigte das Steinhaus, das Clemmie in Beas Album gesehen hatte. Granny Addie und Grandpa Frederick saßen auf der Veranda, Clemmies Mutter stand neben ihnen, und ein mürrisch dreinblickendes Kind, das Tante Anna sein musste, saß auf Grandpa Fredericks Schoß. Clemmie war sicher, dass sie noch andere gesehen hatte, wenn sie nur gewusst hätte, wo.
«Die sind alle später aufgenommen», sagte Tante Anna. «Schau sie dir genauer an, dann siehst du es. Sie ist erst 1926 rübergekommen.»
Mehrere Jahre nach der Geburt von Clemmies Mutter. «Hat sie dich mit Grandpa Frederick nach Kenia geschickt?»
Clemmie hatte von Kindern gehört, die in England zurückgelassen worden waren, als ihre Eltern in die Kolonien gingen, aber nie umgekehrt. Andererseits kamen ja die merkwürdigsten Dinge vor. Vielleicht hatten sie gerade in einer Krise gesteckt; vielleicht hatte Granny Addie aus geschäftlichen Gründen zurückbleiben müssen. Es konnte alle möglichen Gründe haben.
Clemmies Mutter räusperte sich und sagte mühsam: «Ich bin in Mombasa geboren. Deine Tante in Nairobi.» Sie sah Tante Anna mit zusammengekniffenen Augen kurz an. «Deine Tante will, dass ich dir sage, dass deine Granny Addie nicht meine biologische Mutter war. Ich sehe zwar nicht ein, welche Rolle das jetzt noch spielen soll.»
«Nicht deine biologische Mutter?», unterbrach Clemmie. «Was soll das heißen?»
«Sie war nicht unsere Mutter», sagte Tante Anna.
«Sie war es in jeder Hinsicht, die zählt», widersprach Clemmies Mutter hartnäckig. «Sie war uns weit mehr Mutter als …»
«Du kannst nicht einmal ihren Namen aussprechen. Für dich existiert sie einfach nicht.»
«Wir haben für sie auch nur am Rande existiert.»
«Moment», rief Clemmie. Sie kam sich vor wie Alice hinter den Spiegeln, in einer verkehrten Welt. «Aber sie und Grandpa Frederick, sie haben sich kennengelernt, als sie dreizehn war. Sie hat mir die ganze Geschichte erzählt. Die mit der Maus.»
«Aber dann sind andere Ereignisse dazwischengekommen», sagte ihre Mutter förmlich.
Tante Anna sah ihre Schwester nur an. «Sie haben 1929 geheiratet. Hier fliegt wahrscheinlich irgendwo noch eine Heiratsurkunde rum, wenn du es schwarz auf weiß haben willst. Du brauchst nur nachzurechnen.»
1929 wäre ihre Mutter fast acht Jahre alt gewesen. Tante Anna fünf. Und hier, vor ihr, lag ein Album mit Bildern aus Kenia, das bis zum Jahr 1926 reichte, doch nicht ein einziges Foto von Granny Addie enthielt.
Wie aus weiter Ferne sah sie den heruntergefallenen Ordner auf dem Boden von Jons Arbeitszimmer liegen und unter den verstreuten Papieren die körnige Fotokopie des Titelblatts einer alten Zeitschrift. Noch ein Bild ohne Granny Addie. Sie
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