Ashford Park
Ha, so einer käme ihr jetzt gerade recht. Sie hatte richtig Lust, sich zu prügeln, oder irgendwas Ähnliches zu machen; es brodelte nur so in ihr. Sie hätte frieren müssen, stattdessen war ihr glühend heiß, als kochte sie innerlich.
Kein Mensch, der nur einen Funken Verstand besaß, würde es wagen, sich an ihr zu vergreifen. Vor sich hin murmelnd, probte sie Argumente und Beschuldigungen. Was sie zu ihrer Mutter hätte sagen sollen! Und zu Granny Addie. Granny Addie, die gar nicht Granny Addie war, die ihr ihr Leben lang etwas vorgemacht hatte und gestorben war, bevor sie ihr irgendetwas erklären konnte. Hatte sie es ihr sagen wollen? Hatte sie deshalb angefangen, die alten Geschichten zu erzählen? Wenn Clemmie mehr da gewesen wäre …
Schuldgefühle und Zorn kämpften miteinander und vermengten sich schließlich zu einer widerwärtigen Mischung aus Selbstgerechtigkeit, Zweifel und Gekränktheit. Ja, gut. Aber was war mit all den anderen Jahren, den Jahren vorher? Jahrelang war sie fast täglich nach der Schule zu Granny Addie gegangen. Unzählige Male hatten sie zusammen Weihnachten und Thanksgiving gefeiert. Sie hatten zusammen eine Reise nach London gemacht, nur sie und Granny Addie. Warum hatte sie nie einmal gesagt, komm, setz ich, ich muss dir etwas erzählen?
An der 96 th Street, auf der West Side, ließ sie den Park hinter sich. Sie hätte den Bus nehmen und nach Hause fahren können, um dort aufzutauen und wütend vor sich hin zu schäumen, doch sie ging Richtung Norden weiter. Sie konnte sich nicht an Jons Hausnummer erinnern, aber sie wusste noch, an welcher Ecke sie abbiegen musste – oder glaubte, es zu wissen. Sie bog zweimal falsch ab, bevor sie, inzwischen fertig mit den Nerven, das Haus fand. Richtig, da stand Jons Name in schwarzen Blockbuchstaben auf einem Stück Klebeband, das schief über dem Namen des Vormieters saß. Als sie endlich Jons verzerrte Stimme über die Sprechanlage hörte, nannte sie nicht einmal ihren Namen, sondern stürmte gleich ins Haus und rannte die Treppe hinauf. Ihr Herz raste, ihr Gesicht war taub vor Kälte, und ihre Haare standen, durch die trockene Kälte statisch aufgeladen, nach allen Richtungen ab.
«Warum hast du’s mir nicht gesagt?» Clemmie konnte nur in keuchenden Stößen sprechen. Sie war zu lange nicht mehr im Fitness-Studio gewesen.
Überraschung, Schuldbewusstsein und Verwirrung spiegelten sich in Jons Gesicht. Er warf einen Blick über seine Schulter in die Wohnung. «Ich habe gerade erst …»
«Blödsinn.» Die Wut tat gut. Clemmie ging auf Jon zu und zwang ihn, zurückzuweichen und die Tür weiter zu öffnen. «Du hast es die ganze Zeit gewusst. Und, hat’s Spaß gemacht, mich zu verarschen?»
Ein seltsamer Ausdruck huschte über Jons Gesicht. «Deine Großmutter», sagte er langsam. «Darum geht’s.»
«
Nicht
meine Großmutter», korrigierte Clemmie. «Wie lange weißt du es schon?»
Jon kniff einen Moment die Augen zu. «Noch nicht so lang», sagte er. «Ein paar Jahre vielleicht. Hör zu, Clemmie …»
«Ein paar Jahre vielleicht», wiederholte Clemmie fassungslos.
Wie lang waren ein paar Jahre? Jon war Historiker. Er dachte in Jahrzehnten. Hatte er es in Rom schon gewusst? Sie wusste, dass das eine nichts mit dem anderen zu tun hatte, trotzdem machte der Gedanke sie noch wütender. Mit ihr zu schlafen und keinen Ton zu sagen!
«Wie lange?», fuhr sie ihn an.
Jon seufzte einmal kurz und gereizt. «Ich habe damals bei den Recherchen für meine Diss ein bisschen rumgesucht. Rechne es dir aus.» Er blockierte die Tür mit seinem Körper und sprach hastig. «Was macht es denn für einen Unterschied? Deine Großmutter war deine Großmutter. Sie hat dich geliebt. Diese Bea scheint sowieso eine ziemliche Zicke gewesen zu sein.»
Dass er von Bea wusste, genug, um sich eine Meinung über sie zu bilden, machte Clemmie noch wütender.
«Toll», sagte sie bissig. «Wenn sie eine starke Frau war, kann sie nur eine Zicke gewesen sein.»
«Das habe ich nicht gesagt. Addie war auch keine Zicke. Würdest du sie etwa schwach nennen?»
Sie wusste überhaupt nicht, wie sie sie nennen sollte.
Jon folgte seinen eigenen Gedankengängen. «Meistens sind doch die Schwachen zickig, nicht die Starken. Die haben es nicht nötig.»
Prima. Genau das, was sie brauchte. «Danke für die Glückskeksphilosophie. Kann ich vielleicht ein bisschen Chow Mein dazu haben?»
Jon hielt beide Hände hoch. «Du brauchst jemanden, an dem du deinen Ärger
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