Ashford Park
sah die Bildunterschrift vor sich:
Lady Beatrice Desborough und Sir Frederick Desborough.
Nicht Gillecote. Nicht Rivesdale.
Desborough.
Clemmie zeigte auf das Album. Es erstaunte sie, wie ruhig ihre Hand war. «Bea ist das Ereignis, das dazwischengekommen ist, oder?»
Es war leichter, es so zu sehen. Ein Ereignis war etwas Kaltes und Unpersönliches. Kein Mensch, sondern ein Ereignis war dazwischengekommen.
Ihre Mutter nickte.
«Sie ist …» Clemmie brachte es nicht fertig, ‹meine Großmutter› zu sagen. Es wollte ihr nicht über die Lippen. Ihre Großmutter war Granny Addie. Aber das stimmte gar nicht. Aufgebracht rief sie: «Warum hast du mir das nicht gesagt?»
«Es erschien mir nicht wichtig.»
«Nicht wichtig?» Clemmie hatte sich ihr Leben lang bemüht, dem Vorbild einer Großmutter zu folgen, die gar nicht ihre Großmutter war. Sie war … Clemmie wollte nicht einmal versuchen, den Verwandtschaftsgrad zu errechnen. Ihre Stimme schwankte, als sie fragte: «War Grandpa Frederick mein richtiger Großvater? Oder war das auch Lüge?»
«Du hast seine Augen», antwortete ihre Mutter.
«Du hast immer gesagt, ich hätte Grannys Kinn», entgegnete Clemmie. «Ich wusste nur nicht, dass es die falsche Großmutter war. Warum hast du es mir nicht gesagt?»
Schweigen antwortete ihr.
Sie ballte die Hände. «Was ist mit ihr passiert? Mit meiner richtigen Großmutter.»
Es kam ihr vor wie Verrat, es auszusprechen, es auch nur zu denken, hier, in Granny Addies Zimmer, in dem so vieles noch an ihre Großmutter erinnerte, die Bilder, die an die Wand gelehnt standen, die Kleider in den Kartons. Clemmie hatte so viele Stunden in diesem Zimmer verbracht. Als kleines Mädchen war sie auf dem Bett herumgehüpft, das jetzt nicht mehr da war, hatte mit den Kleidern, die im Schrank hingen, feine Dame gespielt und später am dem grauenvollen Krankenhausbett gesessen. Sie waren immer so viel zusammen gewesen, sie und Granny Addie.
Aber Granny Addie war nicht Granny Addie, und auch sie hatte Clemmie belogen, indem sie geschwiegen hatte.
«Deine heilige Granny Addie hat sie ausgebootet», sagte Tante Anna. «Sie ist nach Kenia gekommen, und prompt ist alles den Bach runtergegangen.»
«Das stimmt nicht», fuhr Clemmies Mutter scharf dazwischen. «Daran kannst du nicht Mami die Schuld geben. Sie konnte gar nichts dafür.»
«Mami?»
Tante Anna tat, als müsste sie sich übergeben. «Gott, die Frau hatte dich wirklich eingewickelt. Du konntest es gar nicht erwarten, deine echte Mutter loszuwerden, oder?»
«Du warst noch zu klein, um dich richtig zu erinnern», entgegnete Clemmies Mutter in überlegenem Ton. «Du weißt nicht mehr, wie es vorher war.»
«O doch.» Tante Annas Gesicht hatte einen Ausdruck bekommen, den Clemmie vorher nie gesehen hatte. «Ich erinnere mich an unsere Mutter, unsere wahre Mutter. Ich erinnere mich an ihr Parfüm. An ihr Lachen.»
Clemmies Mutter stand auf. «Erinnerst du dich auch an die Auseinandersetzungen? Erinnerst du dich, dass sie manchmal wochenlang verschwunden ist? Weißt du davon noch irgendetwas?» Sie umfasste die Rückenlehne des Stuhls mit beiden Händen. «Ich weiß es noch genau. Ich weiß noch, dass die Gouvernanten ständig gewechselt haben. Und ich erinnere mich an die Nächte, in denen sie nicht nach Hause gekommen ist. Sie wollte uns nie haben.»
«Sie wollte vielleicht
dich
nicht haben», schrie Tante Anna.
Clemmies Mutter schüttelte den Kopf. «Addie war uns beiden eine bessere Mutter, als
sie
uns je gewesen ist.»
«Ja, klar», sagte Tante Anna. «Es hat sie ja auch nichts gekostet. Sie hatte ja alles, was sie wollte. Nachdem sie unsere Mutter ausgebootet hatte.»
Die Spannung zwischen den beiden Frauen drohte sich in einer schrecklichen Szene zu entladen. Einen Moment lang sahen sie sich beide gespenstisch ähnlich, nicht die Züge, sondern im Ausdruck. Sie hatten beide dieselbe Feindseligkeit im Gesicht.
«Hört auf! Hört auf, alle beide.» Clemmie ging auf ihre Mutter los. «Wolltest du es mir jemals sagen?»
«Du weißt nicht, wie es war. Unsere eigene Mutter … sie hat uns verlassen.» Tante Anna schnaubte empört, aber Clemmies Mutter ließ sich nicht ablenken. Sie sah Clemmie unverwandt an. «Deine Großmutter war meine wahre Mutter, auch wenn sie nicht meine leibliche Mutter war. Sie war siebzig Jahre lang meine Mutter. Sie ist die Mutter, für die ich mich entschieden hätte, wenn ich hätte wählen können.»
«Sie war nicht meine
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