Ashford Park
auslassen kannst, hm? Na schön, dann tob dich aus. Aber was bringt es? Es ist nun einmal passiert. Wenigstens hattest du jemanden, den du Großmutter nennen konntest. Dafür solltest du dankbar sein.»
«Du hast leicht reden», schoss Clemmie zurück.
«Weil es nicht meine Familie ist?» Jon lächelte schief. «Danke. Ich hab mich schon gefragt, wann das kommen würde.»
Er hatte wirklich Nerven. «Weil
dich
niemand über Jahre, ach was, dein Leben lang, belogen hat.»
Clemmie versagte die Stimme. Sie merkte, dass sie einem Tränenausbruch gefährlich nahe war, und versuchte, sich in den Griff zu bekommen. Wut war in Ordnung, Heulen nicht. Sie konnte jetzt nicht hier, vor Jon, völlig die Kontrolle verlieren. Es war nur so ein fürchterlicher Tag gewesen: die künstliche Pietät bei der Trauerfeier, die leere Stelle, wo einmal Grannys Bett gestanden hatte, der Lippenstift auf den Zähnen der Frauen am Büfett … Alles schlug über ihr zusammen. Und jetzt stand sie hier vor Jons Tür, nicht einmal drinnen im beschissenen Flur, und rastete aus wie ein verwöhnter fünfjähriger Fratz, der sein Eis nicht bekommen hatte.
Sie wollte etwas sagen, doch sie fand die Worte nicht. Wenn sie jetzt zu reden anfing, würde sie losheulen, und das war das Letzte, was sie wollte. Sie hatte gedacht, sie würde sich besser fühlen, wenn sie es bei irgendjemandem loswerden könnte. Stattdessen hätte sie sich am liebsten in die nächste Ecke verkrochen und hemmungslos geweint.
Jons Gesicht wurde weich. «Es tut mir leid, Clemmie. Wirklich. Ich hätte es dir sagen sollen. Aber du solltest jetzt erst mal nach Hause fahren. Alles überschlafen.»
Clemmie schüttelte wortlos den Kopf.
«Ich geh mit dir runter und setz dich in ein Taxi.» Jon legte ihr die Hand auf den Arm und drehte sie behutsam herum. Seine Stimme war leise und besänftigend. «Wir reden morgen. Ich verspreche es dir. Ich sag dir alles, was ich kann. Alles, was ich weiß», verbesserte er sich. «Keine Geheimnisse mehr.»
Clemmie schaute zu ihm auf, blickte in sein vertrautes Gesicht mit den grün-braunen Augen hinter der Brille mit dem Goldrand, auf die braunen Haare, die an den Schläfen erstes Grau zeigten, und sie sah die kleine Narbe neben seinem Mund. Sie erinnerte sich an den Tag, an dem er vor Jahren, sie war damals in der achten Klasse gewesen, mit ihr zum Rollschuhlaufen gegangen und über einen draufgängerischen Sechsjährigen gestolpert war.
Der ungeheure Adrenalinschub, der sie durch den Park gejagt hatte, ließ plötzlich nach, und sie war nur noch erschöpft, durchgefroren und zittrig. Sie fühlte sich fast wie ein geschmolzener Schneemann, konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Es tat gut, sich an Jon lehnen zu können, jemanden an der Seite zu haben, an dem sie sich festhalten konnte. Zerstreut fragte sie sich, ob aus der Begleitung nach unten vielleicht mehr werden, ob sie da weitermachen würden, wo sie letzte Woche angefangen hatten, und einfach ausblenden würden, was seither passiert war – die Beerdigung, die Enthüllungen, die Lügen. Sie konnten reinen Tisch machen und vielleicht in ihrer schäbigen kleinen Wohnung neu anfangen.
«Okay», krächzte sie heiser.
Jon drückte ihren Arm. «Dann komm.»
Sie hörte ein Geräusch. Die alten Dielen in der Wohnung knarrten, und eine Frauenstimme sagte: «Hey!»
Clemmie fühlte sich plötzlich ganz merkwürdig. Das Treppenhaus schien vor ihr zu vibrieren, aber vielleicht waren es auch nur ihre Augen, die immer noch von der Kälte brannten. Es war die Kälte, sonst nichts. Sie schaute Jon an und versuchte zu begreifen, was gerade passierte.
Jon sagte leise und mit Nachdruck: «Ich wollte es dir sagen.»
«Hallo.» An der Wohnungstür stand eine Frau. Ihre Haare waren noch nass vom Duschen. Sie trug eine Yogahose und ein ärmelloses UNC -Shirt und schien sich hier ganz zu Hause zu fühlen.
Als Clemmie sie das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie ein ausladendes weißes Kleid mit Schleier getragen und einen Haufen Make-up.
«Jon. Warum hast du mir nicht gesagt, dass wir Besuch haben?» Caitlin kam auf nackten Füßen näher. «Hallo! Kennen wir uns?»
Kenia, 1927
E in tolles Schauspiel, nicht?» Frederick trat zu Addie, die unterhalb der Terrasse stand.
Von oben konnte Addie das Klappern von Eiswürfeln in einem Mixbecher hören und die schon etwas schrillen Obertöne kultivierten Geplauders. Weit interessanter jedoch war, was sich vor ihr abspielte, wo die Kikuyu die Hochzeit
Weitere Kostenlose Bücher