Ashford Park
heraushängenden Zipfel Khakihose achtlos zugeklappt, lag neben dem Sessel auf dem Boden.
Über der Armlehne des Schreibtischstuhls hing der Blazer vom vergangenen Abend, von dem sogar noch ein schwacher Duft nach Granny Addies Wohnung auszugehen schien: Potpourri und Zitronenöl.
Clemmie nickte in Richtung Schlafsofa. «Hast du nicht gesagt, dieses Glück hätte ich nicht?»
«Beherrsch dich, du Bestie. Ich bin immer noch ein verheirateter Mann. Streng genommen.» Jon kniete sich aufs Bett, um die Bücher im Regal durchzusehen.
Während er seinen Finger von einem Buchrücken zum nächsten wandern ließ, stand Clemmie unbehaglich hinter ihm, gerade so weit entfernt, dass ihre Knie nicht ans Bett stießen. «Was suchst du eigentlich?»
Nach ihrer Bibliothek zu urteilen hatte Tante Anna einen starken Hang zu Hochglanzbildbänden über Kunst und Architektur. Sie hatte Kunstgeschichte studiert, wie Clemmie sich vage erinnerte. Es hatte immer für Streit zwischen den Schwestern gesorgt, dass Tante Anna ihr Studium abgeschlossen hatte und Mutter nicht. Und dann hatte Tante Anna, wie Mutter es sah, alles einfach weggeworfen, um erst dem einen Mann hinterherzulaufen und dann dem nächsten. Clemmie war von frühester Jugend an eingebläut worden, wie wichtig es war, sich für einen Beruf zu entscheiden und dann auch dabei zu bleiben, sich immer wieder selbst zu motivieren und finanziell unabhängig zu sein. Und Erfolg zu haben. Wie Granny Addie.
«Das hier.» Jon zog einen großen Folioband aus dem Regal. Sein T-Shirt spannte sich bei der Bewegung über seinem Rücken. Für einen Professor war er ziemlich gut in Schuss. Kostenlose Mitgliedschaften in den Fitness-Centern der Universitäten hatten zweifellos ihr Gutes. «Clem? Clemmie?»
«Was ist?» Sie blickte zu dem Buch hinunter, das er ihr unter die Nase hielt. Vorn auf dem Einband war ein Schloss zu sehen, das stimmungsvoll inmitten eines prachtvollen ornamentalen Formschnittgartens aufgenommen war, während hinter den Zinnen die Sonne unterging.
Englische Herrenhäuser?
«Sie kann tatsächlich lesen», sagte Jon.
«Kartentricks kann ich auch», sagte Clemmie. Sie setzte sich auf das Schlafsofa, das schwere Buch auf ihre Knie gestützt, und versuchte, das BlackBerry zu ignorieren, das in ihrer Tasche brummte. «Und was genau soll ich hier sehen?»
Den Blick auf das Buch gerichtet, blätterte Jon mit sicherer Hand die Seiten durch. «Das hier.»
Der Verlag hatte keine Kosten gescheut; die Seiten waren aus schwerem Kunstdruckpapier mit glänzender Oberfläche und mehr Bildern als Text. Die linke Seite zeigte eine Prachtaufnahme von einem rechteckigen Gebäude aus goldfarbenem Stein, mit einer Kuppel gekrönt, deren Form die der Hügel dahinter aufnahm und diese gleichzeitig beherrschte
.
Ashford Park
stand als Überschrift in großen schwarzen Lettern auf der rechten Seite. Darunter war in zierlicher, schnörkeliger Hand geschrieben:
O herrliche Rotunde! Sinnbild Englands größter Stunde.
Ich kannte wahre Schönheit nicht, bevor ich Ashford sah.
John Keats, 1794–1821
Clemmie hatte nicht gewusst, dass die Dichter der Romantik für Marketing- und Publicityzwecke zu mieten gewesen waren.
Die Linie der Grafen von Ashford lässt sich bis zu einem Sir Guillaume de Gillecote zurückverfolgen, die Ländereien jedoch, die den Familiensitz Ashford umgeben, wurden erst 1486 erworben, nachdem man sich während der Rosenkriege klug auf die Seite des richtigen Kandidaten geschlagen hatte.
Die nachfolgenden Generationen vergrößerten und erweiterten den ursprünglichen Bau und machten aus dem Landhaus im jakobinischen Stil einen klassizistischen Prunkbau. Mit 135 Zimmern …
«Es wird ‹Gill-cott› ausgesprochen», sagte Jon hilfsbereit. «Mit hartem G.»
Clemmie blickte auf. «Das verstehe ich nicht. Was interessiert mich, ob in China ein Sack Reis umfällt? Was hat das mit Granny Addie zu tun?»
Jon ließ sich neben ihr aufs Sofa fallen. Sie spürte, wie die Matratze sich senkte und es sie zu ihm hinüberzog.
«Hier», sagte er und tippte mit dem Finger auf die Kuppel, «hier ist Granny Addie aufgewachsen.»
Kapitel 3
London, 1906
U nmöglich», sagte eine Frauenstimme. «Einfach unmöglich.»
Addie kauerte, unter Mänteln begraben, im Flurschrank. Der schwere Ledermantel, den ihr Vater trug, wenn er mit dem Automobil fuhr, bildete eine Wand zu ihrer Linken. Die Risse und Nähte im Leder hatten ihr ganz eigenes Muster. An Addies Wange lag der
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