Ashford Park
dort, wo sie sie hingelegt hatte, auf ihrem Schreibtisch im Wohnzimmer; Vaters Pfeife lag in ihrem Untersatz. Aber schon hatten sie etwas Verlassenes, als wüssten sie, dass ihre Besitzer nicht zurückkommen würden.
Es war kalt im Schrank, kalt und feucht unter muffig riechenden Mänteln, die nie wieder jemand tragen würde.
«Ist denn in diesem Haus kein Mensch da?» In der Vorhalle waren Leute, eine Frau und ein Mann. Die Frau senkte ihre Stimme. «Mir ist bei dem allen nicht wohl, Charles, gar nicht wohl.»
«Was sollen wir denn sonst tun? Wir sind ihre Familie.» Es war eine Männerstimme, kurz und klar im Ton, aristokratisch und ungeheuer überdrüssig.
«Es gibt doch Möglichkeiten …», sagte die Frau.
«Soll man uns nachsagen, dass wir eine Ashford Gillecote ins Armenhaus geschickt haben?»
«Sei nicht so pathetisch, Charles», gab die Frau gereizt zurück. «Du tust ja gerade so, als wäre ich einem Dickens-Roman entsprungen. Ich habe nicht gemeint, dass wir sie ins Armenhaus bringen sollen. Aber es gibt doch sicher andere Möglichkeiten, als sie zu uns zu nehmen. Was ist denn mit der Seite ihrer Mutter? Irgendwoher muss die Frau doch gekommen sein.»
«Vera …»
«Oder mit den Verwandten in Kanada? Die haben so viele Kinder, dass da eins mehr oder weniger nicht ins Gewicht fällt. Gesunde Luft in Übersee, das wäre doch genau das Richtige.»
«Ich setze ein kleines Mädchen nicht mutterseelenallein auf ein Schiff», entgegnete der Mann. Onkel Charles. Addie wusste nicht mehr über ihn, als dass er der Bruder ihres Vaters war und die beiden sich seit Vaters Heirat mit Mutter nie wiedergesehen hatten. «Sie kommt zu uns, und damit Schluss.»
Addie hörte das Klappern von Absätzen auf den Fliesen in der Halle, das Rascheln von Röcken im engen Gang zwischen Schrank und Flurtisch. «Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie sie die Kinderzimmer mit unseren Mädchen teilt. Man braucht nur an ihre Eltern zu denken …»
«Ihr Vater war mein Bruder», unterbrach Charles.
«Halbbruder. Und diese Person, diese Frau. Glaubst du im Ernst, dass ich ihr Kind …»
«Ein Kind, Vera», sagte Onkel Charles müde. «Genau, es ist ein Kind. Sie ist erst … wie alt? Sechs? Sieben? In diesem Alter kann man sie noch erziehen. Und ich bin überzeugt», fügte er trocken hinzu, «das wird keiner besser gelingen als dir.»
«Addie? Addie?» Es war Fernie. «Hast du dich versteckt?» Addie hörte ihre schnellen Schritte anhalten. «Oh, das tut mir leid. Warten Sie schon lange?»
«Auf unser Läuten hat sich niemand gemeldet.» Das war wieder die Frau, voller Missbilligung.
«Ich habe die Dienstboten entlassen.» Fernie brach die Stimme. «Lord und Lady Ashford? Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Addie ist … nun, Sie werden es sich vorstellen können. Es ist sehr schlimm für sie. Für uns alle. Es kam so plötzlich, so unerwartet.» Wieder versagte ihr die Stimme.
«Ist das Kind fertig?», fragte die Frau, weitere Vertraulichkeiten unterbindend. «Der Wagen wartet.»
«Ja, es ist alles bereit», antwortete Fernie zerstreut. «Aber Addie, sie versteckt sich oft im Schrank, wenn sie traurig ist. Es ist ihr Rückzugsort.»
Die Tür öffnete sich, ein blasser Lichtstrahl drang ein. Addie machte sich noch kleiner, drückte sich an die Rückwand des Schranks.
«Addie», sagte Fernie mit einem flehenden Unterton in der Stimme. «Addie, komm heraus. Dein Onkel und deine Tante sind da, Lord und Lady Ashford. Bitte, Liebchen, komm jetzt heraus.»
Widerstrebend krabbelte Addie aus ihrer schützenden Ecke und rutschte zwischen alten Stiefeln und ausrangierten Regenschirmen nach vorn. Ihre Haare hatten sich aus ihrem Band gelöst, und ihre schmutzigen Hände hatten dort, wo sie sich mit ihnen im Gesicht herumgewischt hatte, dunkle Stellen hinterlassen.
Zuerst sah sie ihre Tante, Lady Ashford, die sie anstarrte wie einen Käfer, der aus den Parkettritzen gekrochen kam. Sie war eigentlich nicht groß, aber sie nahm eine Menge Raum ein. Ihr Hut wölbte sich außen herum nach oben und in der Mitte nach unten. Auf der einen Seite steckte eine Feder, die so unnatürlich lila war, dass sie nicht von einem Vogel stammen konnte. Lady Ashford trug ein Reisekostüm in Lila und Schwarz und um die Schultern eine Pelzstola. Der Kragen ihrer Jacke war hoch und steif und reichte ihr direkt unters Kinn, was vielleicht, dachte Addie, der Grund dafür war, dass sie den Kopf so hoch trug.
Onkel Charles, der neben ihr stand,
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