Ashford Park
befehlen.
Das Wort dröhnte im Takt mit dem Brummen des Motors und dem Drehgeräusch der Räder in ihren Ohren, als sie aus der Guilford Street abfuhren und dem Haus entgegenrollten, dem ihr Vater so demonstrativ den Rücken gekehrt hatte.
Ashford.
New York, 1999
I st das nicht
Wiedersehen mit Brideshead
?» Clemmie blickte auf das Bild.
«Nein», sagte Jon. «Das war Castle Howard. Aber nah dran. Derselbe Architekt.»
Der goldene Stein von Ashford Park leuchtete im Sonnenschein, die große Kuppel beherrschte die Landschaft in weitem Umkreis. Eine vielstufige Freitreppe führte zum Eingang hinauf, einem großen Portal im Schatten eines Portikus mit einem Dreiecksgiebel, neben dessen hohen Säulen es beinahe klein wirkte. Weite Nebenflügel dehnten sich zu beiden Seiten, mit Pilastern geziert, die die schier endlosen Fensterreihen unterteilten, alles in vollendetem Ebenmaß. Selbst flachgedrückt auf einem Blatt Papier wirkte das Gebäude imposant, wie geschaffen dazu, das gemeine Volk in Ehrfurcht erstarren zu lassen und fürstliche Gäste zu beeindrucken.
Es sah unbewohnt aus. Es war ein Prunkbau, aber kein Zuhause, und ganz gewiss nicht Granny Addies Zuhause.
«Du veräppelst mich», sagte Clemmie. «Es sei denn, du erzählst mir jetzt, dass sie ein Dienstmädchen war, das es weit gebracht hat oder so was.»
Jon erstickte fast vor Lachen. «Was liest du denn? Barbara Taylor Bradford?»
«Was gibt’s an Barbara Taylor Bradford auszusetzen?»
Jon zog ein Gesicht, das seiner Meinung deutlich Ausdruck verlieh.
«Ja, ja. Und Terry Patchett ist hohe Literatur?» Das war das Gefährliche, sie wussten zu viel voneinander. Deshalb hatte sich auch nie etwas … Schluss damit. Clemmie tippte auf das Bild. «Kannst du dir Granny da wirklich vorstellen? Ich nicht.»
«Warum nicht?», fragte Jon.
Clemmie blätterte weiter. Auf das große Prachtbild von der Fassade folgten fünf Seiten mit Innenaufnahmen, einige zeigten ganze Räume, andere interessante architektonische Details. Sie konnte sich Granny Addie nicht um alles in der Welt in diesem Haus vorstellen. Auf dieser ausladenden Doppeltreppe und der umlaufenden Galerie mit dem aufwendig geschnitzten Geländer sollte sie Verstecken gespielt haben?, In diesem langen Speisesaal mit den roten Wänden und dem massiven silbernen Tafelaufsatz in der Mitte des Tischs sollte sie ihre Mahlzeiten eingenommen haben? Es gab auch eine Detailaufnahme von dem Tafelaufsatz, seinen Sockel bildeten trompetende Elefanten.
Privaträume waren nicht abgebildet, keine Schlafzimmer, keine Kinderzimmer. Die hatten den Autor des Buchs wohl nicht interessiert.
«Irgendwo musste sie doch aufwachsen», meinte Jon sachlich. «Was dachtest du denn, wo das war?»
So merkwürdig es war, Clemmie hatte sich nie wirklich Gedanken über die Herkunft ihrer Großeltern gemacht. Sie waren einfach da. Wie die Säulen, die ein Gebäude trugen. Man hielt nie inne, um sich zu fragen, wo der Marmor gebrochen und wie er bearbeitet worden war. Sie waren einfach da.
Granny sprach manchmal von Kenia, von ihrer ersten Zeit dort und wie sie gelernt hatten, die Farm zu bewirtschaften, einen Betrieb zu führen, aber das war alles. Weiter zurück ging es nie, und Clemmie hatte nicht daran gedacht nachzufragen.
«Wenn es dir hilft», sagte Jon, «sie war kein Dienstmädchen, aber sie war eine arme Verwandte. Ihr Vater war der Bruder des sechsten Grafen.»
Clemmie musste an diesen Spruch aus
Mel Brooks’ Spaceballs
denken, den über den ehemaligen Zimmergenossen des Cousins des Bruders des Vaters.
Und zu was macht uns das? Zu absolut gar nichts
.
Jon hatte sich warm geredet. «Als ihre Eltern 1906 bei einem Omnibusunfall ums Leben kamen, haben der Graf und seine Frau sie bei sich aufgenommen.»
Clemmie rechnete. «Dann wäre Granny Addie also die Nichte des Grafen.»
«Genau.»
Clemmie schüttelte den Kopf. «Das passt irgendwie nicht, Jon.» Sie wies auf das Buch. «Hier steht, dass der Graf von Ashford und seine Familie heute noch in dem Haus leben. Wieso haben wir keinen Kontakt mit den Leuten, wenn Granny Addie dort aufgewachsen ist? Warum hat sie nie erzählt, dass sie in England noch Familie hat?»
«Ich vermute, dass ihre Wege sich getrennt haben», meinte Jon zurückhaltend. «Es hat ein Zerwürfnis gegeben. Oder was meinst du, warum sie nie was erzählt hat?»
Sie hätte es vielleicht getan, wenn Clemmie mehr da gewesen wäre. Clemmie schob den Gedanken weg und rutschte unter dem Buch hervor.
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