Ashford Park
Draußen.» Jon folgte ihr in den Flur und half ihr in den Mantel. «Willst du wirklich in der Vergangenheit herumstöbern, Clem?»
Clemmie riss am Revers ihres Mantels, um es geradezuziehen. «Du tust es doch auch.»
«Ja, aber von Berufs wegen.» Sein Atem berührte warm ihren Nacken. «Und die Leute sind nicht mit mir verwandt. Du liebst Addie. Und Addie liebt dich. Das ist doch das Entscheidende.»
Sie drehte sich ungeschickt um, genau im falschen Moment, sodass sie mit ihm zusammenstieß und sie ihre Glieder erst wieder entwirren mussten. «Herzlichen Dank, Dr. phil.», sagte sie und schob sich das in die Stirn gefallene Haar aus dem Gesicht. «Ich werd’s mir merken.»
Jon bückte sich, um ihren Schal unter dem Stuhl hervorzuholen. Unter den Schneemännern spannten sich durchtrainierte Oberschenkel. «Die passende Antwort darauf ist wahrscheinlich so was wie ‹na klar›.»
«Es ist komisch», sagte Clemmie, als sie ihren Schal von ihm entgegennahm, «aber ich glaube, ich bin tatsächlich froh, dass du wieder da bist.»
«Es ist komisch», sagte Jon und langte an ihr vorbei, um die Tür aufzusperren, «aber ich glaube, ich bin tatsächlich froh, wieder hier zu sein. Ich geb dir Bescheid, wenn ich eine Bude gefunden habe.»
Clemmie schlang sich den Schal um den Hals und warf den Kopf von einer Seite zur anderen, um Haare wegzuschütteln, die gar nicht mehr störten. «Viel Glück bei der Suche. Sag Tante Anna, dass ich hier war.»
«Wird gemacht.» Er hielt ihr mit übertriebener Galanterie die Tür. «Und, hey, wenn du mich irgendwie brauchst …»
«… wird mir schon jemand anders einfallen, den ich anrufen kann», sagte Clemmie.
Er hielt den Daumen hoch, und die Tür fiel hinter ihr zu.
Erst danach fiel ihr auf, dass er ihr nicht gesagt hatte, worüber Tante Anna mit ihr hatte sprechen wollen. Und er hatte nicht erklärt, was es mit Bea auf sich hatte.
Kapitel 4
Ashford, 1906
I st es wahr, dass du von Heiden aufgezogen worden bist?
Es war Addies erste Nacht in Ashford. Sie lag hellwach in ihrem Bett, die Decken bis zum Kinn hochgezogen und versuchte krampfhaft, nicht zu weinen. Sie hatte Angst, die Tränen würden ihr auf dem Gesicht gefrieren. Das Feuer im Zimmer war längst heruntergebrannt, es war bitterkalt, und da war keine Fernie, die es neu anfachte, keine Mutter, die ihr einen Kuss auf die Schläfe gab und rund um ihr Kinn die Decke einsteckte.
Addie drehte sich auf die Seite, aber das Quietschen der Matratze klang in der Stille viel zu laut. Nie hätte sie für möglich gehalten, dass es irgendwo so dunkel sein konnte. Der weiß lackierte Schrank und der Nachttisch waren graue Schatten in der Finsternis. Addie vermisste den Schein der Gaslampen, der zu Hause abends durch die Ritze zwischen den Vorhängen am Fenster fiel. Sie vermisste die beruhigenden Geräusche Londons, das Knarren der Pferdewagen, das dumpfe Brummen der Automobile. Hier gab es ganz andere Geräusche, seltsames Knistern und Rascheln, das sie unter der Decke Schutz suchen ließ.
Phantasie war schön und gut bei Tageslicht, aber in der Nacht war sie beklemmend. Und in einem Haus wie diesem ließen sich Geister nicht so leicht als Aberglaube abtun: Hier schienen weiße Frauen und kopflose Reiter und Wagen, die fahrerlos durch die Gassen donnerten, viel eher Gewissheit. Die Freunde ihrer Eltern hatten sich manchmal um die Wette Gruselgeschichten erzählt, aber das war im hell erleuchteten Wohnzimmer ihres kleinen Hauses in der Guilford Street immer nur schaurig schön gewesen. Hier, in Ashford, wo aus dem Wald der klagende Schrei irgendeines fremden Tiers durch die Stille drang, durfte sie an solche Geschichten nicht einmal denken.
Sie waren spät in Ashford angekommen, so spät, dass Addies Bild vom Haus nur aus einem verwischten Eindruck brennender Fackeln am Eingang und endloser grauer Steinmauern bestand. Draußen hatten sie in geordneter Reihe Dienstboten erwartet, aber Addie war ihnen nicht vorgestellt, sondern nur die Reihe entlang eine Treppe mit unzähligen Stufen hinaufgescheucht worden in eine herrschaftliche Eingangshalle, die größer war als ihr ganzes Elternhaus und von einer grenzenlos hohen Decke überwölbt. Addie hatte den Kopf so tief, wie es ging, in den Nacken gelegt, um hinaufzusehen und die gemalten Menschen zu bestaunen, die sich so hoch über ihr in mehreren Etagen tummelten.
Gaff nicht
, hatte Tante Vera gesagt.
Tante Vera sagte ständig, tu dies nicht, tu das nicht. Renne nicht,
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