Ashford Park
Wilde denn aus?», fragte Addie.
«Ach, du weißt schon, Federn auf dem Kopf und angemalte Gesichter und so. Nanny hat gesagt, du wärst von Heiden aufgezogen worden», erklärte ihre Cousine auf dem Bett wippend. «Du Glückspilz. Ich bin von Nanny aufgezogen worden, und du kannst dir bestimmt vorstellen, wie das war. Todlangweilig.»
Es war schwer, sich vorzustellen, dass es mit Bea je langweilig sein konnte: Sie knisterte vor Energie, wie der Himmel vor einem Gewitter. Sie sah mehr Onkel Charles ähnlich, aber ihre Überschwänglichkeit erinnerte Addie ein kleines bisschen an ihren Vater. Bei dem Gedanken wurde ihr innerlich warm.
«Wohnst du schon immer hier?», fragte sie schüchtern.
«Ja, grausam, nicht? Wenn wir Glück haben, fahren sie im August mit uns zu Tante Agatha nach Schottland, und dann dreht sich alles nur um Moorhühner. Ich war bis jetzt nur ein einziges Mal in London. Du hast dort gelebt, nicht?»
Addie nickte.
«Ich beneide dich. Wie ist es dort? Doch sicher wahnsinnig aufregend.» Ohne auf eine Antwort von Addie zu warten, beugte sie sich zu ihr übers Bett und sagte verschwörerisch: «Wenn ich groß bin, werde ich eine Marquise, und dann wohne ich in London und esse
jeden Tag
Walnusskuchen zum Frühstück.»
Addie merkte, dass sie das beeindrucken sollte, aber ihr fehlte eine wichtige Information. «Was ist eine Marquise?», fragte sie zaghaft.
Bea rümpfte die Brauen. «Die Frau von einem Marquis natürlich. Ein Marquis ist was Höheres als ein Graf», erklärte sie mit Genugtuung. «Das bedeutet, dass ich dann im Rang höher stehe als Mama. Was ist das?» Sie hatte Fernies Buch entdeckt.
«Ein Buch», antwortete Addie vorsichtig.
«Das sehe ich, du Dummerchen. Aber was für ein Buch?»
Addie setzte sich auf. «Es ist ein Gedicht, und es heißt
Goblin Market
.»
«Lies es mir vor.» Es raschelte laut, als Bea vom Bett rutschte und nach einer Kerze und Zündhölzern zu suchen begann. Es gab Elektrizität in Ashford, aber bis zu den Kinderzimmern war sie noch nicht vorgedrungen. «Hier.» Bea zündete die Kerze an.
Addie blickte ängstlich zur Tür. «Und wenn uns jemand sieht?»
«Nanny schläft wie eine Tote. Und sie schnarcht», sagte Bea. «Die würden wir schon von weitem hören.»
«Na gut», sagte Addie. Es war schließlich Beas Haus. Sie musste es wissen. Und es tat gut, diejenige zu sein, die etwas wusste, wo sie doch keine Ahnung hatte von Ashford und Mark … wie immer das auch hieß. Sie hielt die Decke hoch, damit Bea neben sie schlüpfen konnte. «Es handelt von zwei Schwestern, Lizzie und Laura. Das ist Laura.»
Sie hielt das Buch so, dass Bea das Titelbild sehen konnte, auf dem Laura sich in vorgebeugter Haltung anschickte, eine Locke ihrer langen blonden Haare abzuschneiden, um den listigen Kobolden damit etwas abzukaufen. Selbst auf dem in Schwarz und Weiß gehaltenen Bild konnte man erkennen, dass ihre Haare so mondhell waren wie Beas.
Bea beugte sich über Addies Schulter, um das Bild zu betrachten. «Sind das Goblins?», fragte sie. «Sie schauen mehr wie Dachse aus. Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Plage die Dachse hier sind.»
«Ich habe noch nie einen Dachs gesehen», gestand Addie. «Nur Bilder.»
Bea zog die Augenbrauen zusammen. «In London gibt’s keine, nicht? Was steht da drunter?»
Addie folgte dem Text mit dem Finger. «Da steht: ‹Kauft von uns mit einer goldenen Locke.›» Sie musterte Beas blonden Zopf, der im Kerzenlicht wie Silber und Gold schimmerte. «So wie deine.»
Bea drückte das Kissen bequemer zurecht. «Und wie geht’s weiter?»
«Jeden Tag marschieren die Goblins vorbei und rufen: ‹Kommt und kauft, kommt und kauft.›» Addie brauchte gar nicht auf den Text hinunterzusehen. Sie hatte genau im Gedächtnis, wie die Goblins zwei und zwei marschierten, wie sie gackerten und glucksten und alle möglichen Fratzen schnitten. «Sie bringen Äpfel und Quitten, Damaszenerpflaumen und Heidelbeeren. Laura und Lizzie wissen, dass sie nicht von den Früchten essen dürfen, aber Laura kann nicht widerstehen.»
«Sie kann
Früchten
nicht widerstehen?», fragte Bea.
«Es sind Zauberfrüchte», erklärte Addie und erlaubte sich ein angenehmes kleines Schaudern. «Goblinfrüchte.»
«Hm», machte Bea.
«Laura hat solchen Appetit darauf, dass sie sich für einen einzigen Pfirsich eine Haarlocke abschneidet. Aber Sterbliche dürfen nicht von den Früchten essen.» Das Gedicht ließ daran keinen Zweifel. Das Verlangen nach
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