Ashford Park
Haben sie dir schon ordentlich die Leviten gelesen?»
Addie schob sich die Haare hinter die Ohren und wünschte, sie würden sich bei Regen nicht gleich immer so krausen, sondern seidig und glatt bleiben wie Beas. «Nein, aber das kommt ganz sicher noch.»
«Brot und Wasser?» Der Kies knirschte unter ihren Füßen, als sie weitergingen.
«Schimmliges Brot und brackiges Wasser», stimmte sie in seinen leichten Ton ein. «Aber das Schlimmste ist das Auspeitschen.»
Er blieb stehen und sah zu ihr hinunter. «Das ist doch ein Scherz, Maus?», fragte er leise. «Richtig?»
«Ja, natürlich», sagte sie hastig. «Sie würden mich niemals wirklich schlagen, nur so oft, wie sie mich ins Rote Zimmer einsperren, meine ich. Wahrscheinlich streichen sie mir für ein oder zwei Wochen das Taschengeld. Das ist meistens die Strafe. Nur werden sie es diesmal wahrscheinlich sperren, bis ich achtzig bin. Was steht denn normalerweise auf ein verpatztes Debüt?»
Sie redete zu viel und zu schnell, aber er hatte einen Ausdruck im Gesicht, der sie aus der Fassung brachte, so ernst und angespannt, dass sie sich unwillkürlich fragte, was er getan hätte, wenn sie behauptet hätte, sie würde tatsächlich geschlagen.
Er schob die gesunde Hand in die Hosentasche und ging weiter. «Ich bin froh, das zu hören.» Irgendwo in der Nähe rief ein Vogel, es klang laut in der Stille des Parks. «Ich habe schon gefürchtet, ich müsste zur Rettung eilen.»
Die Worte hörten sich leicht an, doch sie hatten einen Unterton, und wie er zu ihr blickte, so beiläufig, und doch … Addie trieb das trotz der morgendlichen Kälte die Hitze in die Wangen, während ihre Hände eiskalt blieben.
«Wie Perseus und Andromeda», platzte sie heraus, nur um etwas zu sagen.
Er sah sie belustigt an. «Gehört zu deiner Menagerie etwa auch ein Seeungeheuer, Maus?»
«Nein.» Sie schüttelte den Kopf. «Ich habe nur gemeint, so was tun Helden doch. Sie retten Prinzessinnen aus höchster Not und so.»
Sie sah, dass er lächelte, obwohl er versuchte, es nicht zu zeigen. «Ich kann dir nichts Heldenhaftes versprechen», sagte er ernst, «aber wenn du wirklich mal in höchste Not gerätst, dann ruf einfach, und ich komme. Was Seeungeheuer angeht, kann ich allerdings nichts versprechen.»
«Danke», sagte Addie. «Das ist sehr nett von Ihnen.»
«Bis auf die Seeungeheuer», versetzte er mit einem Lächeln, bei dem sich in einer Wange eine Vertiefung zeigte, die nicht ganz ein Grübchen war, aber eins hätte sein können.
Addie fingerte am obersten Knopf von Dodos Mantel herum, während sie krampfhaft nach einer halbwegs intelligenten Erwiderung suchte, irgendetwas wenigstens, das nicht wie verlegenes Gestammel klang. Bea wüsste genau, wie sie reagieren müsste. Sie würde lachen und mit einer charmanten kleinen Replik antworten, aber nicht wie Addie auf einer Haarsträhne herumkauen wie eine Kuh, während das Schweigen sich endlos dehnte. Er musste sie für stumm und schwachsinnig halten, genau die Sorte Cousine, die man mit gutem Grund in der Bodenkammer einsperrte.
Sie hätte einen Scherz über Seeungeheuer machen sollen, dass sie ja hier nicht in der Nähe von Wasser seien. Aber jetzt war es zu spät, jetzt würde es nur noch so wirken, als hätte sie diese ganze Zeit gebraucht, um sich etwas auszudenken, und das stimmte ja auch, aber …
Sie schaute verstohlen zur Seite. Er bemerkte ihren Blick und lachte. Addie wurde rot und senkte den Kopf.
Lautes Rufen rettete sie aus der Verlegenheit. «Miss Adeline? Oh, dem Herrn sei Dank.» Ivy, das Oberhausmädchen, blieb abrupt stehen und stützte sich vorgebeugt mit den Händen auf die Knie, um wieder zu Atem zu kommen. «Ich habe schon gedacht, ich würde Sie nie mehr finden, Miss. Ich suche Sie seit Stunden.»
Sie bemerkte Mr. Desborough und brach verwirrt ab.
«Entschuldigen Sie, Sir», keuchte sie und knickste. «Ich wollte nicht stören. Lady Ashford möchte mit Miss Adeline sprechen. Im Arbeitszimmer von seiner Lordschaft.»
Addie wappnete sich innerlich. Das Arbeitszimmer verhieß nichts Gutes. Im Wohnzimmer, wo auch die allgemeine Inspektion stattfand, wurden kleinere Vergehen abgehandelt, im Arbeitszimmer die ernsteren Verstöße. Tante Vera würde doppelt ärgerlich sein, weil sie sie so lang hatte warten lassen.
Stunden? So lang konnte es nicht gewesen sein. Addie warf einen scheuen Blick zu Mr. Desborough. Sie hatte alles Zeitgefühl verloren. Es kam ihr vor, als hätten sie sich nur ein
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