Ashford Park
um die Hand, dass es rote Striemen auf ihren Fingern hinterließ. Sie bemerkte, dass die junge Frau sie beobachtete, und zog das Kabel hastig von ihrer Hand.
Nichts Schlimmes, dachte Clemmie. Bitte lass es nichts Schlimmes sein.
«Clemmie?» Jon war wieder da, immer noch leise, aber verständlich. «Bist du noch dran?»
«Ja. Was ist los? Was ist passiert? Wie schlimm ist es?»
Aus weiter Ferne vernahm sie seine Stimme. «Es sieht nicht gut aus, Clem.» Und dann: «Ich glaube, du solltest nach Hause kommen.»
Kapitel 12
London, 1920
A ddie wollte nur noch nach Hause.
Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, weil es nirgends eine Uhr gab. Es konnte alles zwischen Mitternacht und fünf Uhr morgens sein in dieser nächtlichen Welt künstlicher Fröhlichkeit, in der das Leben erst nach Sonnenuntergang begann und bis in die frühen Morgenstunden dauerte. Eine ständig wechselnde Menge von Männern in weißen Smokings und juwelenglitzernden Frauen schob sich in einem Wirrwarr von schrillen Stimmen und fremden oder flüchtig bekannten Gesichtern an ihr vorbei.
Der Abend hatte mit den mittlerweile üblichen Cocktails im Ritz begonnen, ehe sie weitergezogen waren in einen schwindelerregend hochgelegenen Loft, in den man über eine endlose Treppe und schließlich eine Leiter hinaufklettern musste. Eine Art Tausendundeine Nacht-Dekor und eine Band mit Turban tragenden Musikern hatte sie empfangen. An der Tür hatte eine Frau mit einer wenig überzeugenden Pluderhose aus Gaze und einem Schleier, der dauernd an ihrem Lippenstift kleben blieb, ihre Garderobe entgegengenommen und ihnen Gläser mit irgendeinem dubiosen Gebräu in die Hand gedrückt. Sie behauptete, es sei eine türkische Köstlichkeit. Es schmeckte eher wie Terpentin mit Himbeermarmelade, fand Addie. Vor dort aus waren sie in den überfüllten Keller von Rector’s gefahren, wo Addie vom aufdringlichen Geruch nach billigem Gesichtspuder in der Toilette fast übel wurde und von der Blechmusik der Kapelle Ohrenschmerzen bekam. Die Musiker hatten Feuerwehrhelme auf – Addie wusste nicht, warum –, und als Geordie Pillbrook einfach einen mitgehen ließ, gab es ein Riesengetöse und die ganze Truppe verließ fluchtartig das Lokal, aber leider nicht, um nach Hause zu fahren. Vielmehr hatte sie sich von mehreren Taxis in diesen Klub bringen lassen, wo es so eiskalt war, wie es im Rector’s überheizt gewesen war.
‹Garden of Eden› nannte sich dieses Etablissement, wo der Garten aus einem Stück Terrasse mit nackten Steinplatten und ein paar trostlosen Topfbäumen bestand. Die kleinen Lampions in den traurigen Bäumchen sollten wohl Äpfel darstellen.
Es stand nun unwiderruflich fest: Addie hasste Nachtlokale.
Sie hatte genügend von ihnen kennengelernt, um sich einen Überblick zu verschaffen. Den ganzen letzten Monat lang war sie mit Beas Clique zwischen einem Ende von London und dem anderen hin- und hergejagt. In dem fruchtlosen Bemühen, sich anzupassen, hatte sie sich die Lippen rot gemalt, was ihr nicht stand. Und sie hatte ihre eher brav geschnittenen Kleider am Ausschnitt mit Nadeln gerafft, um den erforderlichen gewagten Effekt zu erzielen. Es hatte nicht zu ihr gepasst. So wie sie nicht in diese Welt passte. Sie konnte weder ihre lässig blasierte Art zu reden noch ihre Exaltiertheit nachahmen. Sie unterhielten sich über Themen, die Addie langweilten, und über Leute, die sie nicht kannte.
Addie wusste, dass sie sie langweilig fanden. Sie konnte es verstehen. Mit ihnen zusammen war sie auch langweilig. Ihr ganzer Enthusiasmus blieb ihr im Hals stecken. Diese Leute wollten nichts über Fernies spiritistische Experimente hören. Fernie war nämlich überzeugt, neulich auf dem Ouija-Brett eine Nachricht von ihrem toten Verlobten erhalten zu haben, auch wenn es niemandem, Fernie eingeschlossen, gelang, aus ihr klug zu werden. Es interessierte die Clique nicht, dass Addie es geschafft hatte, den Drucker zu überreden, der
Review
mehr Kredit einzuräumen, und ebenso wenig interessierte sie das ausgesprochen witzige Spektakel vom Redaktionskater, der sich im Farbband der Schreibmaschine verheddert hatte und dann kreischend durchs ganze Haus getobt war und überall schwarze Farbspuren hinterlassen hatte, bevor sie ihn endlich hinter dem Schreibtisch des Lyrikredakteurs stellen konnten. Sie wollten nichts von dem Vortrag über politische Ökonomie wissen, den sie sich angehört hatte, und nichts von
The Love Song of J. Alfred Prufrock
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Wie sollte
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