Ashford Park
schimmernden Himmel über dem Central Park sehen. Wieder Abend. Sie war seit über vierundzwanzig Stunden hier, und Granny Addie war nicht ein einziges Mal wach geworden. Von Zeit zu Zeit entfaltete sich vorübergehend hektische Aktivität an irgendwelchen Apparaten, die vor sich hin piepten, aber danach lautete das Urteil immer gleich: Keine Veränderung.
«Wie spät ist es?», krächzte sie. Sie zog sich an den Armlehnen des Sessels höher. «Ist irgendwas?»
«Nein», sagte er schnell. «Nichts.»
Eine Welle der Panik brach plötzlich durch den Nebel der Erschöpfung. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, waren ihre Mutter, die auf der einen Seite des Zimmers auf und ab ging, und Tante Anna, die elegant in einem Sessel auf der anderen Seite saß und in einem Hochglanzmagazin blätterte, das so stark parfümiert war, dass Clemmie es durchs ganze Zimmer hatte riechen können. Jetzt war Tante Annas Sessel leer und der von Clemmies Mutter auch. Selbst der Parfümgeruch war verflogen.
Clemmie schob sich hoch, die Vinylpolsterung unter ihr quietschte. «Wo ist Tante Anna?»
«Draußen im Korridor. Sie telefoniert.»
Clemmie musterte Jon argwöhnisch. «Und meine Mutter?»
«Macht den Schwestern die Hölle heiß.» Was da in Jons Gesicht stand, kam Mitleid gefährlich nahe. Clemmie sah ihn finster an. «Sie haben alles im Griff, Clemmie», versicherte er. «Gönn dir eine Pause. Fahr nach Hause.»
Nach Hause. In das ungepflegte Kabuff in der West 52 nd Street, wo sie nicht einmal Vorhänge aufgehängt hatte. Wozu auch? Sie war ja fast nie dort. Das war nicht zu Hause. Zu Hause war in Granny Addies Wohnung mit den Brokatvorhängen mit den Quasten, mit dem Tintenfleck auf dem Teppich, den die zehnjährige Clemmie hinterlassen hatte, als ihr eine Kalligraphiefeder heruntergefallen war, mit den vertrauten Gerüchen nach Duftsäckchen, Zitronenöl und flüssigem Make-up von Lancôme.
«Fahr nach Hause», wiederholte Jon. «Du siehst todmüde aus. Du tust niemandem einen Gefallen, wenn du dich so fertigmachst. Sie rufen dich an, wenn es einen Grund gibt.»
Clemmie schüttelte den Kopf. Ihre Wohnung war auf der anderen Seite des Parks in Midtown Manhattan. Am Rockefeller Center gab es in der Touristensaison kaum ein Durchkommen, nicht mal mit dem Taxi, wenn man überhaupt eines bekam.
«Meine Wohnung ist zu weit weg», sagte sie. «Was ist, wenn etwas passiert?»
Sie brauchte nicht zu erklären, was sie mit ‹etwas› meinte. Sie hätte es wahrscheinlich auch gar nicht über sich gebracht.
«Dann fahr zu mir», schlug Jon sachlich vor. «Das ist in der Nähe, und du bist in zehn Minuten wieder hier. Du kannst auf meinem Sofa schlafen.»
«Was? Kein Bett?»
«Damit du’s dir gemütlich machen kannst?», fragte er sachte spottend. «Das würde doch deine Märtyrernummer ruinieren.»
Clemmie schoss in die Höhe. «Das ist gemein.»
«Immerhin hat’s dich hochgebracht», sagte er. «Komm, du kannst dich ja vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten. Und wie lang läufst du noch mal in dem Kostüm rum?»
Clemmie versuchte gar nicht nachzurechnen. Aus Trotz setzte sie sich aber sofort wieder hin. «Seit der Eiszeit. Ich betrachte es als mein Fell.»
«Ja, so schaut’s langsam auch aus. Ich kann dir keine Designerklamotten bieten, aber dafür eine Dusche und ein paar eingelaufene T-Shirts.» Er breitete die Hände aus. «Es ist deine Entscheidung.»
Clemmie hatte plötzlich das Gefühl, es jucke sie am ganzen Körper. Die Vorstellung von sauberen Kleidern, ganz zu schweigen von frisch gewaschenen Haaren, war ungeheuer verlockend.
«Und es sind wirklich nur zehn Minuten?», fragte sie misstrauisch.
Jon wusste, dass sie angebissen hatte. «Mit dem Taxi noch weniger», sagte er. «Ich wohne gleich drüben Ecke 111 th und Amsterdam.»
«Lass mich nur schnell mit Mutter reden.» Clemmie stützte sich auf die Armlehnen, während sie sich aus dem unbequemen Sessel hievte. Das Metall unter ihren Händen war klebrig. Ihre Beine kamen ihr fremd und ungelenk vor, so staksig wie die der kleinen Kitze in
Bambi.
Schwindel überfiel sie.
«Hoppla!» Jon hielt sie am Arm fest.
Clemmie wehrte ihn ab. «Ist ja schon gut. Alles in Ordnung. Ehrlich.»
Jon ließ sie vorsichtig los. «Du brauchst nicht immer Superfrau zu sein.»
Clemmie lachte verächtlich. «Von wegen! Ich bin nicht mal Batgirl.» In ihren Augen war Batgirl immer eine unfassbare Niete unter den Superhelden gewesen. Aber was konnte man bei einem
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