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Ashford Park

Ashford Park

Titel: Ashford Park Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Willig
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‹Girl› anderes erwarten. «Wartest du eben noch hier?»
    «Ich habe nicht vor, irgendwohin zu gehen», sagte Jon.
    Clemmie hätte den Weg zu Granny Addies Zimmer inzwischen mit verbundenen Augen gefunden. Sie öffnete leise die Tür, doch die Apparate, die ihre Großmutter umgaben, schienen zu schweigen, nichts piepte oder summte. Granny Addie lag so still wie ein steinernes Bildnis auf einem Sarkophag. Selbst in dem schmalen Krankenhausbett wirkte sie unglaublich klein und geschrumpft. Clemmies Mutter saß neben ihr zwischen den Kabeln und Schläuchen der Maschinen, die dafür sorgten, dass der dünne Faden, der Granny Addie noch mit dem Leben verband, nicht riss. Die auf dem Monitor angezeigte Pulsfrequenz schien Clemmie gefährlich schwach.
    Ihre Mutter hatte einen Krimi von Dorothy Sayers auf dem Schoß. Sie hatte immer gern Krimis gelesen. Clemmie hatte in der Buchhandlung noch rasch mehrere besorgt, aber im Moment las ihre Mutter nicht. Sie schlief auch nicht. Sie saß nur da, die Schultern unter der Jacke ihres grauen Tweedkostüms leicht nach vorn gekrümmt, und starrte ins Leere.
    «Mutter?»
    Die Frau auf dem Stuhl drehte sich abrupt um. Das harte Licht schien ihr die Haut vom Gesicht zu schälen, bis auf die Knochen, und zeigte überdeutlich, wie schlaff Kinn und Hals waren.
    Sie sah alt aus, dachte Clemmie mit plötzlichem Erschrecken. Das ging doch nicht: Sie war Clemmies Mutter. Sie durfte nicht altern wie alle anderen. Sie war immer ‹alt› gewesen in dem Sinn, dass sie älter war als die Mütter von Clemmies Freundinnen. Sie war immer eine Frau mittleren Alters gewesen, selbst als Clemmie noch klein war. Sie war eine Frau mittleren Alters gewesen, und das war sie geblieben: die gleichen Kleider, das gleiche dick aufgetragene Make-up und der dezente Lippenstift, die Blusen mit den Schleifen am Hals, die Röcke, aus Tweed im Winter und aus beigem Leinen im Sommer – alles unverändert.
    «Mutter?», wiederholte Clemmie beunruhigt.
    Ihre Mutter lehnte sich auf dem Stuhl zurück. «Du hast mich erschreckt», sagte sie mit leicht zitternder Stimme. «Du siehst ihr so ähnlich.» Sie brach ab und schüttelte den Kopf, als wollte sie ihn frei bekommen. «Wie spät ist es?»
    «Viertel vor sechs.» Clemmie sprach leise. «Jon hat mir angeboten, dass ich mich in seiner Wohnung frisch machen kann. Er sagt, sie ist nur zehn Minuten von hier. Ich glaube, er findet meinen Duft nicht gerade berauschend.»
    Ihre Mutter nickte, ohne sie anzusehen, die Finger an die Schläfen gedrückt. «Gut.»
    «Ich kann bei dir bleiben, wenn du willst.» Clemmie machte ein paar Schritte auf ihre Mutter zu. Sie hätte sie gern getröstet, aber sie wusste nicht, wie. Körperliche Zärtlichkeit war in ihrer Familie nie üblich gewesen. Es wäre ihr beinahe wie ein Verstoß gegen die Etikette erschienen, eine Anmaßung, wenn sie sie in den Arm genommen hätte, obwohl so deutlich zu sehen war, dass sie litt, schlimm darunter litt, dass niemand da war, mit dem sie reden konnte. «Wenn ich etwas tun kann …»
    Die Schultern ihrer Mutter wurden steif. «Fahr zu Jon. Es fehlte gerade noch, dass du jetzt krank wirst.» Ärgerlich fügte sie hinzu: «Ich hatte Jon gebeten, dich nicht anzurufen. Es bringt sowieso nichts, wenn alle hier herumwimmeln.»
    Aber sie war nicht ‹alle›. Sie war … und da blieb sie hängen. Natürlich hatte Granny Addie noch andere Enkelkinder, aber Clemmie war diejenige gewesen, die da gewesen war, immer. Na ja, fast immer. Aber sie konnte sich doch jetzt nicht hinstellen und erklären ‹ich weiß, dass Granny Addie mich am liebsten hat›. Es hätte nur kleinlich und peinlich gewirkt, da es in dieser Situation völlig ohne Belang war. Und wenn es ihr schon so ging, wie musste sich dann erst ihre Mutter fühlen? Clemmie hatte sich über die Beziehung zwischen ihrer Mutter und ihrer Großmutter nie groß Gedanken gemacht: Granny Addie hatte auf eine ganz eigene Weise immer ihr gehört, war ihr Lehrerin und zweite Mutter gewesen, doch sie war auch die Mutter ihrer Mutter. Die beiden hatten Jahre und Jahre miteinander erlebt, von denen Clemmie nichts wusste. Ihre Mutter, die immer so sehr auf ihre Unabhängigkeit pochte, hatte sich mehr auf Granny Addie verlassen, als die beiden zugeben wollten.
    Clemmie wünschte, ihre Mutter und Tante Anna verstünden sich besser. Es wäre vielleicht leichter für sie, jemanden zu haben, mit dem sie reden konnten, und sich gegenseitig zu trösten.
    Als würde das

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