Assassine - Hüterin des Drachenbaums (German Edition)
keine Zinnen oder sonstige Schutzmaßnahmen waren zu erkennen. Die Körper einiger Türme verdickten sich nach oben hin. Die oberste Plattform war dann breiter als der Rest. Das war aber nicht bei allen so. Einige waren unten dick und oben spitz zulaufend. Sie erinnerten an riesige Stalagmiten, nur dass sie ganz oben eine Art Balken besaßen, der scheinbar ohne Sinn aus ihnen herausragte. Ari wusste nicht so recht, was sie damit anfangen sollte, und sah sich ihre Umgebung näher an. Überall war Sand. Er war rötlich und wurde vom Wind hin und wieder aufgewirbelt. Kleine Steine und einige größere Brocken lagen verstreut herum. Die dunklen Umrisse der Berge rings um das Tal erkannte sie nicht. Es konnte höchstens sein, dass dieser Ort weit im Westen, hinter den großen Wüsten, lag. Berichte von dort gab es nur eine Handvoll und die waren eher von zweifelhafter Natur. Wieder tauchte in ihr die Frage auf, was sie eigentlich hier wollte. Sie konnte doch nicht von einem Ort träumen, den sie nie vorher gesehen hatte!
Das Geräusch von knirschenden Kieseln ließ die Assassine herumfahren. Doch sie entspannte sich gleich wieder. Egal, was gleich aus dem Schatten des Turmes trat, es konnte ihr nichts tun, da ihr Körper nicht wirklich hier war. Die Angst wich langsam der Neugierde und sie ging sogar ein Stück in die Richtung, aus der die Laute kamen. Sie konnte sich schon denken, was da aufsie zukam, und als sie die berobte Gestalt erkannte, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Der Hüter verbeugte sich knapp vor ihr. Sie erwiderte seinen Gruß. Doch zu ihrem Erstaunen trat noch eine zweite Person aus dem Schatten der Säule hervor: ein alter Mann mit schneeweißem Haar. Er trug eine graue Robe. Seine Kapuze war so weit zurückgeschlagen, dass sie sein Gesicht erkennen konnte. Es war wettergegerbt und ihm fehlte ein Auge. Die leere Höhle war blutunterlaufen und man konnte in den Schädel hineinsehen. Narbengewebe wucherte um die schwere Wunde. Mit seiner faltigen Hand grüßte er Ari. Ein kurzes Nicken war alles, was sie zustande brachte. »Ein weiterer Hüter?«, fragte sie sich verwundert. Seltsam verloren standen die drei mitten im Nirgendwo, keiner sagte ein Wort.
Nach einer Weile brach der Hüter die Stille. »Ich habe dir ja versprochen, dass wir uns noch einmal wiedersehen. Wir sind heute hierher gekommen, damit du Zeuge eines Ereignisses wirst, das es so noch nie gab und auch nicht wieder geben wird. Da ich weiß, dass du nicht mit Dummheit geschlagen bist, denke ich, du ahnst bereits, wer ich wirklich bin.«
Ari überlegte sich ihre nächsten Worte sehr gut, denn sie konnten die Beziehung zu dem Hüter für immer zerstören. Aber alles, was sie von Mandrax und aus den Geschichten wusste, deutete nur auf ein Ergebnis hin. Sie fasste sich ein Herz und starrte in das Schwarz, das unter der Kapuze lag. »Du bist Narrond«, flüsterte sie leiser, als sie es eigentlich wollte. Der alte Mann, der bislang schwieg, lächelte. Es war eine Geste, die eher an den Stolz eines Vaters erinnerte als an Heiterkeit.
»So ist es«, sprach der Hüter, »und ich werde dir nun mein wahres Gesicht zeigen.« Gespannt und mit großen Augen starrte Ari auf die Kapuze. Narrond schien zu schrumpfen, bis er nur noch etwas mehr als einen Schritt groß war. Kleine, zarte Hände kamen aus den Ärmeln zum Vorschein und lüfteten die Kopfbedeckung. Es traf die Enrai wie ein Blitz. Vor ihr stand ein Mädchen mit golden schimmerndem Haar und großen blauen Augen und grinste sie an. »Überrascht?«, fragte die Kleine die wie zur Salzsäule erstarrte Assassine. Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr Narrond fort: »Wie du sicher weißt, bin ich noch nicht so alt und deshalb wähle ich gerne das Aussehen eines Kindes. Damit habe ich auch sämtliche Völker auf die Probe gestellt. Das Bild, das gerne von mir gezeichnet wird, entstand wohl im einfachen Volk, das besonders unter meiner Seuche zu leiden hatte. Es lässt sich wesentlich leichter in dieser Form manipulieren als in Gestalt eines mächtigen Kriegers oder gar Gottes. Nebenbei bemerkt bin ich kein Gott, die Prüflinge haben mich hinterher dazu gemacht. Ich erinnere mich da an …«
Die nächsten Worte hörte Ari nicht mehr, da sich ihre Gedanken überschlugen. Sie vermutete zwar, dass der Hüter nicht das war, wofür er sichausgab, aber dass sie mit ihrer Vermutung so nahe an der Wahrheit lag, überraschte selbst sie. Vor ihr stand der, der für den Untergang ihres Volkes
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