Assassine - Hüterin des Drachenbaums (German Edition)
großer lederner Ohrensessel. Die Assassine konnte erkennen, dass jemand darin saß. Er bewegte sich nicht. Der Kopf war ein wenig zur Seite geneigt und lehnte an einer der Stützen. Die Arme lagen entspannt auf den Lehnen.
Das musste der Kaiser sein! Die Gelegenheit schien perfekt. Keine Wächter und er schlief offensichtlich. Ohne ein Geräusch glitt die Enrai über die Einrichtung hinweg. Doch etwas macht sie stutzig und ließ sie noch vorsichtiger werden. Überall in diesem Zimmer lag eine dicke Schicht Staub, als ob sich seit Jahren keiner mehr darum kümmerte. Sie verwarf diesen Gedanken, denn schließlich saß ihr Opfer genau vor ihr; ob er reinlich war oder nicht, war egal, das sollte er seinen Göttern erklären, wenn er vor ihnen stand. In Gedanken bat sie ihre Klinge, leise ihr Versteck zu verlassen, und zu ihrem Erstaunen glitt sie auch geräuschlos an ihrem Unterarm entlang. Eine gelbliche Schicht Gift glänzte darauf. Dass sie so viel todbringende Flüssigkeit zur Verfügung stellte, war neu für Ari. Bisher hatte sie das Toxin nicht gesehen, es wurde immer erst in der Wunde freigesetzt. Sie spürte, wie auch die Waffe wollte, dass der Kaiser starb. Leise schlich sie sich hinter den Stuhl. Sie achtete auf ihren Schattenwurf, damit dieser sie nicht verriet, und machte einen kleinen Umweg, um die natürliche Dunkelheit auszunutzen. In wenigen Augenblicken war sie in Reichweite!
Langsam hob sie ihren Arm zum Stoß. Sie verengte die Augen und fokussierte die Rückenlehne, die mit dünnem, abgewetztem Leder überzogen war. In ihrem Inneren verliefen wahrscheinlich nur einige Stoffbänder, um dem Sitzenden mehr Stabilität zu verleihen. Auf der anderen Seite wusste sie, dass die Stühle der Mächtigen immer mit Eisenplatten geschützt waren, um Attentaten vorzubeugen. Sie zögerte einen Augenblick, entschloss sich dann aber, es zu wagen. In den Privatgemächern vernachlässigten die meisten ihre Sicherheitsvorkehrungen und außerdem sah dieser Stuhl nicht aus, als wäre er für einen Kaiser gemacht worden.
Es war so weit, sie hatte ihr Ziel erreicht. All das Leid, all die Entbehrungen und Verluste – jetzt endete alles. Die Assassine wurde ruhig und die Umgebung verschmolz zu einem grauen Vorhang. Der Augenblick vor der Tat war immer etwas Besonderes. Nur sie und das Nichts schienen zu existieren. Gedanken und Probleme waren verschwunden. Nur noch das Ziel war wichtig. Mit aller Kraft stieß sie zu. Wie durch Butter drang die Klinge durch das brüchige Leder und in den Körper des Kaisers. Der Kopf ruckte kurz nach vorne, sonst bewegte sich nichts. Unnatürliche Stille breitete sich aus. Ari drehte ihre Klinge und riss sie wieder heraus. Kein Blut klebte daran, dochdie gelbliche Giftschicht war verschwunden. Mit einem Gedanken schickte sie die Klinge wieder in ihr Versteck.
Langsam umrundete sie den Ohrensessel, bis sie vor ihrem Opfer zum Stehen kam, dann sah sie dem Kaiser ins Gesicht. Sie war verblüfft und musste sich einen Augenblick lang sammeln. Vor ihr saß zwar der Führer der Menschheit, das konnte sie an dem Siegelring und den Insignien erkennen, die er trug. Aber sein Körper war vertrocknet. Brüchige Haut spannte sich über den Schädelknochen und die von Kleidung unbedeckten Stellen. Auf der Brust entdeckte sie ein kleines Loch im Oberhemd, das einen dunklen Rand getrockneten Blutes aufwies. Der Kaiser war ermordet worden, aber nicht von ihr. Sein Tod musste bereits mehrere Winter zurückliegen. Nun wurde Ari alles klar und sie war sich sicher, dass ihre Entscheidung, die Menschheit zu verschonen, richtig gewesen war. Für all das Leid und die Zerstörung trug nur ein Einziger die ganze Verantwortung – Anzbacher.
Während sie noch dastand und über das nachdachte, was ihr offenbar geworden war, erhob sich eine Stimme hinter ihr. »Ich wusste, dass du hierher kommen würdest, deshalb habe ich hier auf dich gewartet.« Es durchzuckte sie, denn sie kannte diesen warmen und vertrauten Tonfall. Wie sehr hatte sie sich täglich danach gesehnt, ihn wieder zu hören! Die Stimme gehörte ihrem geliebten Sai, die Schlacht musste bereits entschieden sein, wenn er hier war. Schmetterlinge flatterten durch ihren Bauch und in der freudigen Erwartung, ihn nach so langer Zeit wieder in die Arme zu schließen, drehte sie sich zu ihm um.
Sie erstarrte, denn was dort stand, verwendete zwar Sais Stimme, konnte aber unmöglich er selbst sein: eine große Gestalt mit dicker Rüstung, die fest mit dem
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