Assassini
D’Ambrizzi war Indelicato schon immer gleichwertig gewesen, all die Jahre schon, war ihm in jeder Hinsicht gewachsen gewesen – und war ihm vielleicht sogar überlegen.
Was ihr Äußeres und ihr Wesen betraf, hätten diese beiden Männer unterschiedlicher kaum sein können: Indelicato kaltblütig, reptilienhaft mit seinem starren, kalten Blick und dem ausdruckslosen Gesicht. D’Ambrizzi laut, gesellig, voller Wärme und Leben. Doch wenn es angebracht war, konnten beide gleichermaßen erbarmungslos sein, unversöhnlich, brutal … und beide haßten einander abgrundtief. Sie hatten beide körperlich und geistig weitaus bessere Voraussetzungen für das Amt des Papstes mitgebracht als er, Calixtus, und doch war er es gewesen, der im Konklave gewählt worden war – ein Beweis mehr für das vielstrapazierte Zitat: Gottes Wege sind unerforschlich: Doch was eine andere alte Redensart betraf, entdeckte Calixtus einen Irrtum: Er stellte fest, daß das ganze Leben nicht wie ein Film an einem vorüberlief, wenn man im Sterben lag. Nein. Alles, was er vor seinem geistigen Auge sah, war die Zeit in Paris, besonders jene Nacht, als er sich hinter dem eisernen Zaun zusammengekauert und beobachtet hatte, was sich auf dem kleinen Friedhof abspielte. Jene Winternacht, als er und die beiden anderen, zitternd vor Kälte, den hochgewachsenen, hageren Priester mit dem ernsten, dreieckigen Gesicht beobachtet hatten, Pere LeBecq, Pere Guy LeBecq, dessen Vater der bekannte Kunsthändler an der Rue du Faubourg-St.-Honor, gewesen war … es war Guy LeBecq gewesen, der sie verraten hatte. Und nun waren sie die einzigen Überlebenden ihrer Gruppe; alle anderen lagen tot am Schienenstrang, und das war Pere LeBecqs Werk … LeBecq, der Verräter in ihren Reihen … und das alles war wegen der Pius-Verschwörung geschehen, wie sie später in gewissen Kreisen genannt wurde, alles hatte bei der Pius-Verschwörung auf dem Spiel gestanden.
Simons Verschwörung. Simon, den niemals jemand zu Gesicht bekommen hatte, Simon, der sie geführt und geleitet und geschützt hatte, Simon Verginius, der Anführer, der sie nie im Stich gelassen hatte …
Durch die halb geschlossenen Lider hindurch sah er den Dolch, drehte ihn langsam in der Hand. Manchmal, wenn die Qualen überwältigend waren, wenn er nur einen roten wehenden Schleier aus Schmerz vor Augen hatte, dann dachte er hin und wieder an den Dolch, an dessen scharfe Klinge … Dann überlegte er, wie leicht es doch wäre, dem Schmerz und den Qualen ein Ende zu machen; ein Schnitt über die Kehle, das Handgelenk, oder ein Stoß ins Herz, und dann war Friede, für immer Friede, Ruhe, Kühle …
Eis …
In jener Nacht war es auf dem Friedhof klirrend kalt gewesen; er sah wieder die gefrorenen Pfützen, die dünne Eisschicht auf den Grabsteinen … den stämmigen, kräftig gebauten Mann in der Soutane, der auf dem Friedhof auf Pere LeBecq wartete, und draußen, hinter dem Zaun, saßen sie, zusammengeduckt, mit angehaltenem Atem, Sal di Mona, Bruder Leo, und der blonde Holländer … und dann trafen die beiden Männer auf dem Friedhof zusammen; Sal und die anderen hörten den gedämpften Wortwechsel zwischen den Grabsteinen, und plötzlich sprang der stämmige Mann mit den langen, muskulösen, mächtigen Armen auf den Hochgewachsenen zu, packte ihn wie einen riesigen, mißgestalten Hund, rang mit ihm, umklammerte ihn, drückte zu, zerquetschte ihn, preßte das Leben aus ihm heraus, brach ihm mit seiner gewaltigen Kraft die Knochen und warf ihn wie eine zerbrochene Marionette zu Boden … und dann stand der Killer reglos da, und seine Lungen pumpten schwere weiße Wolken aus seinem mächtigen Brustkasten in die frostkalte Nachtluft, und das trübe Licht einer Straßenlaterne beleuchtete sein Profil, sein Gesicht … jenes Gesicht, das Calixtus so gut kennenlernen sollte, das ihm für den Rest seines Lebens so nahe sein sollte …
Am folgenden Tag ging es Seiner Heiligkeit Papst Calixtus gesundheitlich gut genug, um ein Treffen in seinem Büro einzuberufen. Es war dieselbe Gruppe wie beim letzten Mal – D’Ambrizzi, Indelicato und Sandanato; im Vorzimmer warteten zwei von Indelicatos jungen Mitarbeitern, die der Kardinal ins Vertrauen gezogen hatte und die bestimmte Teilaufgaben im Rahmen der Nachforschungen über die Morde wahrnahmen. In einer Ecke des Büros stand ein transportables Sauerstoffzelt, in dem sich auch ein kleiner Schrank mit verschiedensten medizinischen Utensilien befand. Inzwischen
Weitere Kostenlose Bücher