Assassin's Creed Bd. 5 - Forsaken - Verlassen
wir seit mehreren Wochen niemanden gesehen hatten, keine Menschenseele. Natürlich hörte ich ihn, bevor ich ihn sah. Oder besser gesagt, ich hörte die Unruhe, die er auslöste – ein Flattern in der Ferne, als die Vögel aus den Bäumen aufflogen. Einem Mohawk wäre das nicht passiert, das wusste ich, und das hieß, es war jemand anders: ein Kolonist, ein Patriot, ein englischer Soldat, vielleicht sogar ein französischer Kundschafter, der sich weit von seiner Truppe entfernt hatte.
Ziio hatte das Lager vor fast einer Stunde verlassen, um auf die Jagd zu gehen. Trotzdem, ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass auch sie die aufgescheuchten Vögel wahrnehmen würde, und auch sie würde nach ihrer Muskete greifen.
Ich kletterte schnell auf einen Baum, von dem aus ich den Blick über die Umgebung schweifen ließ. Dort, in der Ferne – da war er, ein einzelner Reiter, der langsam durch den Wald trottete. Seine Muskete hatte er sich am Riemen über die Schulter geschlungen. Er trug einen Dreispitz und einen dunklen, zugeknöpften Rock, keine militärische Unform. Jetzt zügelte er sein Pferd, er hielt an, und ich sah, wie er in einen Rucksack griff, ein Fernglas herausholte und ans Auge setzte. Dann richtete er es nach oben, höher noch als die Baumkronen.
Warum nach oben? Kluger Bursche. Er hielt Ausschau nach verräterischen Rauchsäulen, die sich grau abzeichnen mussten vor dem strahlend blauen Morgenhimmel. Ich schaute zu unserem Lagerfeuer hinunter, sah den Rauch, der sich himmelwärts kräuselte, dann richtete ich den Blick wieder auf den Reiter, der den seinen mit dem Fernglas am Auge über den Himmel wandern ließ, fast als ob …
Ja. Fast als ob er den Suchbereich netzartig unterteilt hätte und methodisch ein Quadrat nach dem anderen ins Auge fasste, genau so, wie …
… wie ich es tat. Oder einer meiner Schüler.
Ich entspannte mich ein wenig. Es war einer von meinen Männern, wahrscheinlich Charles, der Statur und der Kleidung nach zu urteilen. Ich beobachtete, wie er die Rauchschwaden des Feuers entdeckte, sein Fernglas wieder in den Rucksack steckte und gemächlich auf das Lager zuritt. Als er näher kam, sah ich, dass es tatsächlich Charles war. Ich stieg vom Baum hinab, kehrte zum Lagerplatz zurück und dachte an Ziio. Hatte sie Charles ebenfalls gesehen und erkannt?
Wieder am Boden schaute ich mich um und sah das Lager mit Charles’ Augen: das Lagerfeuer, die beiden Blechteller, eine Plane, die zwischen den Bäumen aufgespannt war und unter der sich die Felle befanden, mit denen Ziio und ich uns nachts zudeckten. Ich schlug die Plane nach unten, sodass die Felle nicht zu sehen waren, dann ging ich neben dem Feuer in die Knie und hob die Teller auf. Kurz darauf erschien Charles’ Pferd auf der Lichtung.
„Hallo, Charles“, grüßte ich, ohne zu ihm hinzuschauen.
„Ihr wusstet, dass ich es war?“
„Ich sah, wie Ihr Euer erlerntes Wissen eingesetzt habt. Ich war sehr beeindruckt.“
„Ich wurde schließlich vom Besten unterrichtet“, erwiderte er. Und ich hörte das Lächeln in seiner Stimme, blickte endlich auf und sah, wie er zu mir herabschaute.
„Ihr habt uns gefehlt, Master Kenway“, sagte er.
Ich nickte. „Und Ihr mir.“
Er hob die Augenbrauen. „Wirklich? Ihr wisst doch, wo wir sind.“
Ich schob einen Ast ins Feuer und schaute zu, wie die Spitze zu glühen begann. „Ich wollte sichergehen, dass Ihr auch in meiner Abwesenheit handlungsfähig seid.“
Er schürzte die Lippen und nickte. „Ich glaube, dessen könnt Ihr Euch sicher sein. Was ist der wahre Grund für Euer Fernbleiben, Haytham?“
Ich sah scharfen Blickes vom Feuer auf. „Was könnte wohl der Grund sein, Charles?“
„Vielleicht gefällt Euch das Leben hier mit Eurer Indianerfrau, auf der Grenze zwischen zwei Welten, keiner von beiden verantwortlich. Es muss schön sein, sich einen solchen Urlaub zu nehmen …“
„Vorsicht, Charles“, warnte ich ihn. Auf einmal wurde mir unangenehm bewusst, dass er auf mich herabschaute, und ich stand auf, um zumindest annähernd auf Augenhöhe mit ihm zu sein. „Vielleicht solltet Ihr Euch, anstatt Euch um meine Angelegenheiten zu scheren, lieber mit Euren eigenen befassen. Erzählt, wie stehen die Dinge in Boston?“
„Wir haben uns um alles gekümmert, was Ihr uns aufgetragen habt. Das Land betreffend.“
Ich nickte, dachte wieder an Ziio und fragte mich, ob es einen anderen Weg gab.
„Sonst noch etwas?“, hakte ich nach.
„Wir suchen weiter
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