Assassin's Creed Bd. 5 - Forsaken - Verlassen
machen. Ich wurde gebeten, Euch die Stadt zu zeigen und beim Einleben behilflich zu sein.“
Ich war über Charles Lee informiert worden. Er gehörte nicht zum Orden, wollte ihm aber gern beitreten, und laut Reginald würde er versuchen, sich bei mir einzuschmeicheln, damit ich seine Aufnahme befürwortete. Als ich ihn sah, wurde mir bewusst, dass ich jetzt Großmeister des kolonialen Ritus war.
Charles hatte lange, dunkle Haare, dichte Koteletten und eine hervorstechende Adlernase, und obgleich ich ihn auf Anhieb mochte, fiel mir doch auf, dass er im Gespräch mit mir zwar stets lächelte, für alle anderen Menschen im Hafen allerdings nur einen verächtlichen Blick übrig hatte.
Wir schlängelten uns durch die Menge entlang des Kais, vorbei an benommen wirkenden Passagieren und Seeleuten, die sich noch nicht ganz daran gewöhnt hatten, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, hindurch zwischen Dockarbeitern, Händlern und Rotröcken sowie fröhlichen Kindern und Hunden, die allen um die Beine herumwuselten.
Ich tippte mir, als mein Blick auf zwei kichernde Frauen fiel, grüßend an den Hut, dann fragte ich Charles: „Gefällt es Euch hier?“
„Boston hat einen gewissen Charme“, rief er mir über die Schulter zu. „Das trifft eigentlich auf alle Kolonien zu. Zugegeben, ihren Städten fehlen die Perfektion und der Glanz von London, aber die Bewohner sind ehrliche, schwer arbeitende Menschen. Und sie verfügen über einen gewissen Pioniergeist, den ich unwiderstehlich finde.“
Ich schaute mich um. „Es hat schon etwas, dieser Anblick einer Stadt, die endlich laufen gelernt hat.“
„Aber vorher durch das Blut anderer gewatet ist, wie ich fürchte.“
„Ach, diese Geschichte ist so alt wie die Zeit selbst, und sie wird sich wahrscheinlich auch nicht ändern. Wir sind grausame und von Verzweiflung getriebene Geschöpfe, und die Eroberungslust liegt uns im Blut. Die Sachsen und die Franken. Die Osmanen und die Safawiden. Ich könnte die Aufzählung noch stundenlang fortsetzen. Die ganze Menschheitsgeschichte ist nichts weiter als eine Aneinanderreihung von Unterjochungen.“
„Ich bete, dass wir eines Tages darüber hinauswachsen“, erwiderte Charles voller Ernst.
„Während Ihr betet, werde ich handeln. Und wir werden sehen, wem zuerst Erfolg beschieden ist, hm?“
„Das war nur so eine Redensart“, sagte er in leicht gekränktem Ton.
„Aye. Und eine gefährliche noch dazu. Worte haben Macht. Setzt sie mit Bedacht ein.“
Wir verfielen in Schweigen.
„Ihr arbeitet im Auftrag von Edward Braddock, nicht wahr?“, fragte ich, als wir einen mit Obst beladenen Karren passierten.
„Aye, aber er ist noch nicht in Amerika, und ich dachte mir, ich könnte … nun … bis er eintrifft, meine ich … da könnte ich ja …“
Ich trat geschickt beiseite, um einem kleinen Mädchen mit Zöpfen auszuweichen. „Nur heraus damit“, ermunterte ich Charles.
„Verzeiht mir, Sir. Ich hatte … ich hatte gehofft, von Euch zu lernen. Wenn ich dem Orden dienen soll, kann ich mir keinen besseren Mentor vorstellen als Euch.“
Ich verspürte einen kleinen Anflug von Befriedigung. „Das ist sehr freundlich von Euch, das zu sagen, aber ich glaube, Ihr überschätzt mich.“
„Das könnte ich gar nicht, Sir.“
Nicht weit entfernt verkündete ein rotgesichtiger Zeitungsjunge mit einer Mütze auf dem Kopf die neuesten Nachrichten über die Schlacht um Fort Necessity: „Französische Streitkräfte erklären nach Washingtons Rückzug den Sieg“, brüllte er. „Der Duke of Newcastle sagt daraufhin mehr Truppen zu, um der ausländischen Bedrohung zu begegnen!“
Die „ausländische Bedrohung“ , dachte ich. Mit anderen Worten: die Franzosen. Wenn man den Gerüchten glauben durfte, war dieser Konflikt, den man als den Franzosen- und Indianerkrieg bezeichnete, drauf und dran zu eskalieren.
Es gab keinen Engländer, der die Franzosen nicht verabscheute, aber ich kannte vor allem einen Engländer, der sie mit wahrer Inbrunst hasste, und das war Edward Braddock. Wenn er in Amerika eintraf, würde das Kriegsgebiet sein nächstes Ziel sein, und mich würde er in Ruhe meiner Aufgabe nachgehen lassen – jedenfalls hoffte ich das.
Ich verscheuchte den Zeitungsjungen mit einer Handbewegung, als er mir eine Zeitung andrehen wollte. Mir stand nicht der Sinn danach, über weitere französische Siege zu lesen.
Während wir unsere Pferde erreichten und Charles mir sagte, dass wir zu einer Schenke namens Green
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