Assassin's Creed Bd. 5 - Forsaken - Verlassen
hatte.
Natürlich waren das alles Flunkereien. Aber keine richtigen Lügen. Obwohl ich im speziellen Auftrag der Templer reiste, war ich doch auch neugierig darauf, dieses Land einmal mit eigenen Augen zu sehen, nachdem ich so viel darüber gehört hatte und das offenbar so riesig war, dass es die Menschen dort mit einem bahnbrechenden, unerschütterlichen Geist beseelte.
Die einen sagten, dieser Geist könnte sich eines Tages gegen uns wenden und unsere Untertanen wären, wenn sie diese Entschlossenheit in die richtigen Bahnen lenkten, ein Respekt einflößender Feind. Andere hingegen meinten, Amerika sei schlicht zu groß, als dass wir es regieren könnten, es sei ein Pulverfass, das jederzeit in die Luft gehen könne, und die Menschen dort würden es bald satthaben, Steuern zu bezahlen, damit ein Land, das Tausende Meilen entfernt war, Kriege mit anderen, noch weiter entfernten Ländern führen könne. Und wenn diese Situation außer Kontrolle geriet, würden wir möglicherweise nicht die Mittel haben, unsere Interessen zu schützen. Von all dem hoffte ich, mir nun selbst ein Bild zu machen.
Allerdings nur neben meiner eigentlichen Aufgabe, die … nun, ich glaube, man kann ruhigen Gewissens sagen, dass diese Mission sich für mich unterwegs geändert hat. Als ich mich an Bord der Providence begeben hatte, war ich von bestimmten Überzeugungen erfüllt gewesen, und als ich das Schiff verließ, wurden diese Überzeugungen erst auf die Probe gestellt, dann erschüttert und schließlich umgeworfen – und das alles wegen des Buches.
Jenes Buches, das Reginald mir gegeben hatte. Ich hatte an Bord des Schiffes viel Zeit mit seiner Lektüre verbracht. Ich muss es wohl mindestens zwei Dutzend Mal gelesen haben, und ich bin immer noch nicht sicher, ob ich es wirklich verstanden habe.
Eines weiß ich jedoch: Hatte ich jenen, die vorher kamen, bis dahin zweifelnd gegenübergestanden, wie ein Skeptiker, ein Ungläubiger, und Reginalds intensive Beschäftigung mit ihnen bestenfalls für ein Ärgernis und schlimmstenfalls für eine Besessenheit gehalten, die den ganzen Orden aus der Bahn zu werfen drohte, so tat ich das nun nicht mehr. Nein, jetzt war ich selbst ein Gläubiger .
Das Buch schien von einem Mann geschrieben – oder sollte ich sagen geschrieben, illustriert, verziert, hingeschmiert – worden zu sein, einem (oder auch mehreren) Wahnsinnigen, der Seite um Seite mit Behauptungen gefüllt hatte, die auf den ersten Blick wüst und hanebüchen wirkten und über die man allenfalls spotten konnte, ehe man sie am besten vergaß.
Doch je mehr ich las, desto klarer trat für mich – auf unerklärliche Weise – die Wahrheit hervor. Im Laufe der Jahre hatte Reginald mir immer wieder seine Theorien über ein Volk, das dem unseren vorausgegangen war, dargelegt (ich pflegte zu sagen, er hätte mich damit „gelangweilt“). Stets hatte er mir versichert, wir seien aus ihrem Ringen und Mühen hervorgegangen und deshalb verpflichtet, ihnen zu dienen. Unsere Vorfahren hätten einen langen, blutigen Krieg geführt, um ihre eigene Freiheit zu wahren.
Auf der Überfahrt fand ich heraus, dass all das seinen Ursprung in dem Buch hatte, das, während ich es las, eine grundlegende Wirkung auf mich hatte. Anders kann ich es nicht ausdrücken. Auf einmal wusste ich, warum Reginald so besessen von diesem Volk war. Ich hatte ihn damit aufgezogen. Doch als ich das Buch las, hatte ich dieses Bedürfnis nicht mehr, stattdessen erfüllte mich ein Staunen, eine Leichtigkeit und Erleuchtung, die mich bisweilen vor Aufregung ganz kribbelig machten, mir ein Gefühl der „Bedeutungslosigkeit“ vermittelten und die Augen öffneten für meinen Platz in der Welt. Es war, als hätte ich durch ein Schlüsselloch gespäht und erwartet, auf der anderen Seite ein anderes Zimmer zu erblicken – doch stattdessen hatte ich dort eine ganze neue Welt entdeckt.
Und was war aus jenen, die vorher kamen, geworden? Was hatten sie hinterlassen, und wie konnte es uns von Nutzen sein? Das wusste ich nicht. Das war ein Rätsel, das meinen Orden seit Jahrhunderten beschäftigte, ein Rätsel, das man mich zu lösen gebeten hatte, ein Rätsel, das mich hier hergeführt hatte, nach Boston.
„Master Kenway! Master Kenway!“
Ich wurde von einem jungen Mann gerufen, der aus der Menge auftauchte. Ich ging zu ihm und fragte zurückhaltend: „Ja? Kann ich Euch helfen?“
Er reichte mir die Hand. „Charles Lee, Sir. Es ist mir eine Freude, Eure Bekanntschaft zu
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