Astragalus
Gedanken ganz woanders ist, wird er mich auf meinen Krücken um sich herumwirbeln lassen, ohne sich um mich zu kümmern. Ich werde die Gitarre sein, er wird mich mit sanfter Zerstreutheit anspielen und weglegen … Was könnte Julien wohl daran hindern, an das zu denken, woran er denken will, da doch das, was er will, mit einem Haufen Pflichten und Ritterlichkeiten überhäuft ist.
Pierre grinst: »Ist heute schon wieder Sankt-Juliens-Tag?«
Und Julien spricht von moralischer Befriedigung, Pierre macht Wortspiele (das kann er sogar ziemlich gut) – du hast recht, aber ich habe nicht unrecht –, sie versuchen nicht, einander zu überzeugen, sie stellen sich dar, stundenlang. Und wir, die Frauen, hören schweigend zu, Nini an ihrem Herd, ich an meiner Zigarette.
Das wird ein nettes Mittagessen! Und dieser Junge, dieser …
»Wie heißt dein Kumpel eigentlich?«
»Er nennt sich Pedro, das passt gut. Aber vorläufig sagst du Monsieur l’Abbé zu ihm, wie alle anderen.«
»Wie?«
»Ja: Mit dem Steckbrief, den er an der Backe hat, und mit seinem schwammigen Mystizismus und seiner natürlichen Lasterhaftigkeit ist ihm nichts Besseres eingefallen, als sich in einen Pfaffen zu verwandeln.«
Abends essen wir mit einem Seminaristen in etwas zu neuer Soutane. Zur Begrüßung hatte Pedro gesagt: »Sie sind also Anne! Sehr erfreut … Julien hat mir viel von Ihnen erzählt, auch von Ihrem … Unfall. Wie geht es Ihrem Bein?«
»Guten Tag, Pater. Es geht besser, danke.«
Ich habe kühl geantwortet. Ich will keine Ausbrechervertraulichkeit zwischen mir und diesem Pedro mit den Samtaugen, der sich zu höflich ausdrückt und einer glänzenden Kastanie ähnelt. Sofern es sich unter den glatten Flächen des Kirchengewands erkennen lässt, scheint er perfekt muskulös und gut gebaut zu sein, dazu diese Weichheit, diese lateinische Mattigkeit, die sich in seinem Akzent und seinen Gesten findet. Pedro bezeichnet sich als Ganoven aus dem Süden. Er gibt sich selbstsicher, aber sein Plappern wird von plötzlichem Schweigen unterbrochen. Die Zäsur ist zu scharf, es fehlen das Zögern, die kleinen Fehler der spontanen Rede. Pedro bemüht sich, ein Geheimnis ahnen zu lassen, aber ich nehme an, dass es eigentlich nicht viel zu entdecken gibt. Er ist ein hübscher Junge, ein hübscher Schwätzer, eine hübsche Montage. Ohne Mönchskutte und normal gekleidet, würde er dennoch wegen aufgesetzter Natürlichkeit überall Aufmerksamkeit erregen. Sogar seine Schnurrbarthaare sehen aus wie eingepflanzt.
Er wird im Zimmer neben meinem schlafen. In redseliger Traube gehen wir die Treppe hoch, sagen uns auf dem Absatz gute Nacht. Weil aber das Gespräch nicht enden will und ich nur einzelne Silben und ein vielsagendes Lächeln beizutragen habe, verziehe ich mich in meine Kammer und beginne meine Toilette.
Aus Rücksicht auf Julien muss ich Pedro wohl gefallen, muss mich schön machen, Geist und Blick schärfen … Ich will auslöschen, was er weiß und sieht, die Krücken, die Unfähigkeit, die Lahme, die Minderjährige … wobei er auch nicht sehr alt sein kann, vierundzwanzig, fünfundzwanzig vielleicht, ein grüner Junge. Letztendlich hat er mir nichts voraus, als laufen zu können, und trotzdem hat er nichts dagegen, sich von Julien aus der Patsche helfen zu lassen, das Jüngelchen!
Ich krieche ins Bett. Nachher wird Julien seinen Platz eingelegen und warm vorfinden, während ich mich an den kalten Rand schiebe. Ich arrangiere meine Hände um ein Buch, ziehe das Oberteil des alten Nachthemds zurecht.
Pedro kommt hinter Julien herein, entschuldigt sich umständlich: »Noch zwei Worte, Anne, dann lasse ich Sie allein …«
Sie reden vor dem Spiegelschrank, schnell, ohne die Worte zu artikulieren. Ich stelle sie mir in Gefangenenkluft vor, wie sie so während der täglichen Freigangstunde quatschen. Sie denken nicht daran, sich zu setzen, sie berauschen sich an ihren Worten. Na los, wandert um das Bett herum, wenn ihr schon da seid! Ich blättere interessiert die Seiten meines Buches um, ich habe Lust, es ihnen ins Gesicht zu schleudern: Herr im Himmel, trennen sie sich denn nie? Dieser galante Pater, dieser miese Gauner!
Trotzdem bleiben Pedro und ich am nächsten Tag nach dem Kaffee lange sitzen. Wir haben uns sicher beide vorgenommen, unsere Schulen und unsere Herkunft zu vergessen; aber um uns Geltung zu verschaffen und weil die anderen Möglichkeiten für Selbstgefälligkeit tabu oder noch offen bleiben, hauen wir uns trotzdem
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