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Astragalus

Titel: Astragalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albertine Sarrazin
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über die Mauer gesprungen, der Töle um den Bart gegangen und durch ein Fenster im Erdgeschoss eingestiegen. Von da aus sind die Türen offen, und meine ist nicht jede Nacht verschlossen. An den Abenden, an denen ich mit flatternden Nerven und dem Gefühl ins Bett gehe, dass ich nur das Gefängnis gewechselt habe, schließe ich zweimal ab; es tröstet und befreit mich, selbst meine Zellentür zuzusperren. An den Abenden, an denen die Mahlzeit gelungen war, die Bäuche, die gemeinsam dieselbe Nahrung verdauen, und die Geräusche – Ninis Abwasch, Pierres Bandoneon – eine freundliche Schläfrigkeit über den Abend gelegt haben, lehne ich die Tür nur an; vielleicht bemerken sie, wenn sie nachts auf die Toilette gehen, im Vorbeigehen diese einladende Tür, dieses Vertrauen, dieses Zeichen der Feinfühligkeit … Am nächsten Tag hatte mich Nini darauf hingewiesen, dass sich das Holz verzieht, wenn ich meine Tür offen stehen lasse – »und bezahlen Sie dann den Schreiner?«. Also lasse ich auch an Abenden der Sympathie die Tür ins Schloss fallen.
    Julien hat sie so leise geöffnet, dass ich nicht aufgewacht wäre, wenn ich geschlafen hätte. Aber ich schlief nicht. Ich schlafe nie. Zumindest habe ich das Gefühl, zu aufgedreht zu sein, wenn Julien ankommt, sich hinlegt und sofort weg ist. Ich würde auch gern so müde sein wie er und neben ihm schlafen, anstatt in seinen Schlaf hineinzufummeln, ihn zu nerven und zu ärgern.
    »Mein Kätzchen«, sagt er, »entschuldige, ich bin tot …«
    Ich verziehe mich an die Bettkante, tue so, als schliefe ich, während ich ihn erwarte … Habe ich denn solche Lust auf diesen Mann? Er füllt meine Untätigkeit und meinen Schmerz, er ist meine Freude. Ja, aber … Wenn ich imstande wäre, auf etwas anderes zu warten, anders Befriedigung zu finden, würde ich trotzdem ihn wählen?
    Heute Nacht ist Julien ganz munter. »Die wird morgen ein Gesicht ziehen! Ich gehe runter in die Küche, ich habe Durst. Soll ich dir was zu trinken mitbringen?«
    »Ja, bring mir ein Glas Wasser. Mit der fünffachen Menge Ricard.«
    Die Stunden vergehen. Nackt, ohne jede Regung, ertränkt in Hitze, atmen wir die schwere Luft, die durch die Fensterläden rinnt.
    »Habe ich noch Hemden hier?«, fragt Julien plötzlich.
    »Ja, ich habe diese Woche den ganzen Sack gewaschen und gebügelt. Nini hat gesagt, wenn ich mich als deine Frau bezeichne, kann ich mich auch um deine Wäsche kümmern.«
    »Das kann doch nicht wahr sein! Sie hat dich ackern lassen, mit deiner Haxe?«
    »Ich wasche doch nicht mit den Füßen. Lass nur, das macht mir Spaß. Ich hänge sie hier am Fenster auf, sie meckert, dass die Nachbarn sich fragen werden, wer in dem Zimmer wohnt, dass es aussieht wie bei Asozialen usw. Du kannst dir vorstellen, wie ich am nächsten Morgen weitermache. Ich klettere aufs Waschbecken, um es endgültig aus der Wand zu reißen, ich mache ihre Laken schmutzig, kurz, ich versuche, ihnen das Leben unerträglich zu machen … Wir schenken uns nichts. Julien, wie auch immer, ich möchte hier weg …«
    Julien erklärt mir, dass er so früh gekommen sei, weil er ein neues Problem am Hals habe, ein Kumpel auf der Flucht, der bei seiner Mutter aufgekreuzt sei und wolle, dass man ihn verstecke. Er werde versuchen, ihn hier unterzubringen. Die Hemden seien für ihn.
    »Aber sie haben sich doch schon bei mir ewig bitten lassen …«
    »Von wegen! Wenn du wüsstest, wie viele Kerle ich ihnen schon angeschleppt habe! Sie motzen, aber die Liebe zum Zaster ist stärker, am Ende sagen sie immer Ja.«
    »Und was hast du ihnen für Frauen hergebracht?«
    »Sieh an, das haben sie dir auch erzählt. Keine Ahnung, ich erinnere mich nicht mehr. Anne, du bist auf jeden Fall die Einzige für mich. Glaub nichts anderes, bitte, du bist es, Anne, du …«
    Ich halte meine Fragen zurück. Ich liege auf dem Platz dieser Frauen, und diese Minute gehört mir, mir allein. Auch wenn sie gebettelt, geschrien, befohlen haben, die Almosen, die Gefälligkeiten und die Unterwerfungen sind mit ihnen gegangen, und jetzt bin ich, ich … Morgen, was kümmert mich morgen? Morgen ist noch nicht geboren.
    »… Also wenn sie einverstanden sind, rufe ich zu Hause an, und der Kumpel kreuzt hier auf, um sich vorzustellen«, fährt Julien fort.
    »Das heißt, dass du hierbleibst. Oh, toll!«
    Jetzt kann der nächste Tag geboren werden: Ich kenne ihn. Julien wird seine besorgte Miene aufsetzen, er wird nah beim Telefon bleiben, und während er in

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