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Astragalus

Titel: Astragalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albertine Sarrazin
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Besuchsrecht und bestehen darauf: Bruder und Gatte empfangen also gemeinsam, denn der Häftling, der beides ist, hat nur einmal in der Woche Recht auf Besuch. Gattin, Schwester, Schwager – ich höre immer dieselbe Leier, die von Annie, aber ich vermute, dass die anderen mit der gleichen Inbrunst die entgegengesetzten Wahrheiten und Lügen von sich geben. Bruderliebe, Bruderpflicht, Bruderhass … Aber um zu dem Mann zu gelangen, der diese verschiedenartigen Gefühle auslöst, gibt es nur ein Transportmittel, das Auto des Schwagers.
    Sonnabends gegen eins bereite ich den Familienkaffee vor. Annie wird aus Angst, sich schmutzig zu machen, nichts mehr anrühren, bis sie aus dem Besuchsraum zurück ist. Seit dem Morgen habe ich mit jeder Stunde deutlicher das Freudenmädchen unter Morgenmantel und Lockenwicklern auftauchen sehen. Ihre mageren Beine werden durch die hohen Absätze und den Schlitz des engen Rocks inspirierend; die Kostümjacke rundet die Taille, bricht die eckige Linie des Hinterns und der Hüftknochen. Die Haare fangen an sich zu bauschen und zu glänzen, die Lippen röten sich und schwellen, lassen die Zähne kleiner erscheinen. Kurze, schnelle Striche der Wimperntuschbürste umkränzen die Augen mit verführerischen Halmen.
    Trotzdem bleibt das Repertoire des Schwagers an galanten Sprüchen unverändert; wenn er noch welche übrig hat, bekomme ich sie ab. Er baggert mich nicht an, er ist sich seiner Masse ebenso bewusst wie des Respekts, den man Schwiegernichten schuldet; aber in seinen Augen flackern schwere und berechenbare Gedanken. Augen so schwarz wie Kaffee, verkleinert durch die umgedrehten Lupen seiner dicken Brillengläser, weit weg, schön. Zum Glück versteckt die Brille sie ein bisschen, sie passen nicht zu allem anderen: zwischen dicken Wangen eingequetschte Puppennase, überall Speichel, behaarte Hände, der Schwager ist ein Schwein, eine riesige Nacktschnecke, ein Walross in einem Meer von Pernod. Annie sagt zu mir: »Ach was, er labert Schwachsinn, das ist alles, was er draufhat. Nach Dédés Verhaftung konnte ich nicht sofort hierher zurück; sie hatten alles versiegelt, und außerdem wollte ich, dass man uns ein bisschen vergisst … Also habe ich ein paar Wochen bei denen gewohnt. Ich kann Ihnen sagen …«
    Während ihres Zusammenwohnens hat Annie wenig Erfreuliches gesehen: Für ihn »braucht man eine Schneckenzange«, sie ist inkontinent und rennt mit Windeln rum, ihre Tochter Pat ist total erledigt von der Arbeit und hat mit zwanzig eine welke Brust und einen runden Rücken. Das ist die Familie, der Halt, der Klotz. Aber man muss nehmen, was man hat.
    Ich werde auch entlohnt. So wenig und schlecht ich auch nähe, ich verdiene genug, um meinen Apéro zu bezahlen. Ich kaufe mir auch ein paar Klamotten und werfe Ginettes nach und nach in den Müll.
    »He, he, Saufen und Aufpeppen!«, kreischt die Schwägerin.
    Wir haben unsere einfachen Bademäntel abgelegt und uns fast so großartig rausgeputzt wie zur Sprechzeit, um uns zum Sonntagsessen zu begeben. Sie laden uns jede Woche ein, wir nehmen jedes dritte Mal an. Das gehört sich so.
    Ihr Haus liegt am Rand des Pariser Asphalts, da, wo der Schlamm und die Schrebergärten anfangen. Wir müssen Bus fahren, umsteigen, von Pfählen, Mauern und Zäunen gesäumte Straßen entlanggehen. Mein Bein setzt mir zu, Annie stolpert auf ihren Absätzen, Nounouche schlurft durch den Rinnstein und jammert: »Maman! Sind wir bald da?«
    Wir sind da. Das Haus besteht ganz aus weißem Holz, durchbrochen von großen Fenstern, umrankt von leichten Treppen, die sich von Etage zu Etage schwingen. Das Innere ist ein Dschungel, ein Wald aus Krawatten. Die Krawatten haben die Wände gebaut, Centime für Centime, schlaflose Nacht für grauer Tag, während die ganze Familie, in einer Zweizimmerwohnung im Temple-Viertel zusammengedrängt, ohne Unterlass schnitt, nähte, bügelte und wendete, stichelte und heftete. Die Krawatten sind dem Umzug gefolgt und haben sich sogleich wieder breitgemacht. Hier dienen sie als Wandbehang, Kissen und Nippes. Nur die Küche haben sie verschont: Die Familie kennt nur zwei Dinge, Friemeln und Fressen. Noch sind nicht alle Zimmer eingerichtet. Als ich mir im Frühstadium eines Badezimmers die Hände waschen gehe, entdecke ich das Bidet, das in Bändern aus grauem Papier geliefert wurde und so mumifiziert in einer Ecke steht.
    An diesen Sonntagen, wo ich trotz der honigsüßen Herzlichkeit des Krawattenadels ausgeschlossen bleibe,

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