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Astragalus

Titel: Astragalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albertine Sarrazin
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auffallen?«
    Julien ist frisch rasiert, sein Hemd raschelt, seine Haare sind von tausend Scheiteln durchzogen – den Furchen des feuchten Kamms. Er trennt sich nie von seinem Toilettentäschchen, und jeder Zwischenstopp liefert ihm Wasser und Spiegel. Heute Morgen kam er blass vor Müdigkeit, mit blauen Augenringen; er schlief in seinen Dufflecoat gewickelt auf meinem Bettchen ein, Stein, Leiche, taub für meine Annäherungsversuche.
    Seit ich mich mehr bewege und länger wach bin, lerne ich wieder zu schlafen. Ich spüre abends die kleinen Ameisen unter meinen Lidern. Aber diese brutale Art, wie erschlagen zusammenzubrechen, dieser Zwang, der stärker ist als Hunger und Durst, der einen überwältigt und gefangen hält … wenn ich durchs Schlafzimmer gehe, muss ich nicht vorsichtig schleichen, ich kann, statt auf Fußspitzen zu gehen, trampeln und ans Bett stoßen und summen und singen und schreien – dieser Schlaf ist stärker als ich.
    »Mach die Kippe aus …«
    Ich sehne mich nach vorhin zurück, Julien, als du geschlafen hast, taub, aber auch stumm. Ich konnte mich vorbeugen, die Hände vor deinem Gesicht bewegen, dich kneifen, dich würgen. Jetzt bin ich dein Tollpatsch, dein Häschen, deine Kleine, du siehst mich entschlossen an und sprichst wie ein Mann. Ich weiß, nachher, auf dem Boulevard, wird dein Arm weicher, schützender werden, wird ein Henkel sein für meine Hand, eine Zuflucht, und deine Schritte werden auf meine warten; wir steigen in Taxis, gehen in Bars …
    »Was haltet ihr von einer Erfrischung?«
    Meine Eltern erfrischten sich ein-, zweimal im Jahr, am Bahnhofsbüffet, wenn wir unterwegs waren oder wenn wir Gästen die Stadt zeigten und man ihre Füße und ihre Kehlen laben musste. Ein Sirup für die Kleine. Ich schlürfte meine Grenadine, machte es mir in dem hohen Rohrstuhl auf der belebten Terrasse bequem, ich fragte, ob ich zur Toilette gehen dürfte, um die Sauberkeit, das Neon und den Glanz der Flächen zu schnuppern, um das große Seifenei anzufassen, das sich um seine verchromte Achse drehte … Später lösten Kneipen und Bars die Restaurants ab. Dort bunkerte ich meine Nächte, meine Trägheit und meinen Durst, ich redete und rauchte, bis das Tageslicht mich verjagte, ab und zu rappelte ich mich auf, um eine Platte aufzulegen und zu tanzen.
    Keine Kneipe hat mir je länger als zehn Minuten als Wartesaal gedient. Ich war pünktlich und wollte, dass die anderen es auch sind. Was aber kann ich anderes tun als warten und auf die Tür starren, wenn Julien »bis gleich« sagt und ein, zwei Stunden später wiederkommt? Wohin gehen, wohin zurückkehren, wenn nicht zu Annie, später, mit dem letzten Taxi. Ich leere mein Glas, ich habe Durst, ich rufe den Kellner, breche vor dem neuen Glas eine neue Ration meiner Geduld an.
    Mein Realitätsgefühl, der Beweis, dass Julien wirklich da war, das ist am Tag nach einem Ausflug mit ihm der Alkoholreifen um die Schläfen und die glückliche Schwere im Schoß … Julien hat in dem kleinen Bett geschlafen, sich aber am Vorabend von Annie verabschiedet, um sie nicht wecken zu müssen. Es ist noch dunkel, als ich aufstehe und ihm ins Wohnzimmer folge, Wasser aufsetze und Kaffee koche. Nein, nicht nötig, Julien hat sich schon mit kaltem Wasser gewaschen, er wird am Bahnhof Kaffee trinken, Julien hat sich umgezogen, er hat die Liebe in der Wärme der Kissen gelassen, und ich schiebe hinter seiner Eile den Riegel vor – also dann, ciao, entschuldige, ich bin spät dran, ich verpasse den Zug.
    Und jetzt ein oder zwei Wochen Alleinsein.
    »Mein Häschen, ich habe dich betrogen!«, sagt er manchmal, wenn er kommt.
    Und ich antworte lächelnd: »Ich hoffe, es war wenigstens gut!«
    Die Straße ist rein und rau wie eine Wüste; später werden wir vielleicht ganz allmählich magische Wege betreten … Bis dahin gilt es noch viel Schmerz, viele Menschen und Dinge zu zermahlen. Faser für Faser trenne ich auf, sabotiere ich, ich hasse mich dafür, Julien zu »bearbeiten«, aber ich spüre um ihn herum zu viele falsche, klebrige Klammern, ich möchte wenigstens diese durchtrennen.
    Früher wurde ich auch umschmeichelt, verwöhnt, abgeschleckt. Ich war ganz und bissig, mein Kleiderschrank war gespickt und meine Hand geschickt.
    Meine Hilfsmittel sind zerstört, ich bin verletzt und elend, jetzt bin ich es, die sich aufdrängt und anklammert, man hält mich nicht mehr fest, weil ich nichts mehr anzubieten habe, bloß mich, nackt und bloß, und es wäre viel

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