Astragalus
lächeln wir uns seufzend an … Aber erst am Abend kommen wir uns nah. Dann ist die Arbeitskameradschaft verbannt, im Dutzend mit den Krawatten zusammengeheftet, in den Koffer der Verpflichtungen gezwängt, und die Vertrautheit wächst, Zug um Zug, Glas um Glas, über den Tisch hinweg, an dem wir sitzen, zwischen den Blumen des Wachstuchs und den Tellerstapeln.
Nounouche ist das Verbindungsglied, klettert auf unseren Schoß, säubert Tisch und Aschenbecher, summt durch unser Getuschel.
»Los, Nounouche, ins Bett!«, sagt Annie halbherzig ab acht alle Viertelstunde.
Vor der winzigen Lauscherin ist es wichtig, unverständlich zu reden. Annie will, dass ihre Tochter »ein kleines Mädchen bleibt«, erzählt ihr vom Weihnachtsmann, vom Klapperstorch und von Bienen. Sie hätte sich fast mit Madame Villon geprügelt, die Nounouche gemeinsam mit ihren eigenen Töchtern aufklären wollte und ihr Bilder im »Larousse médical« gezeigt hat. Andererseits findet sie es überhaupt nicht schlimm, wenn Nounouche mit uns bis Mitternacht aufbleibt, sie kann morgen ausschlafen. Wenn dann die Schule anfängt … was soll sie schon verstehen? Der Vater ist im Krankenhaus, davon kann man sich jeden Sonnabend überzeugen, man muss der Mutter glauben und niemandem sonst, und wenn die Nachbarn einem irgendwas erzählen, antwortet man ihnen, dass sie die Deppen sind und nur man selbst den Durchblick hat.
Das ist Annies Pädagogik. Ich bewundere vor allem, wie sie ohne die kleinste Unsicherheit und voller Überzeugung auf alles reagiert, was Nounouche beobachtet, hört und aufnimmt.
»Pass auf, Anne«, sagt Nounouche zu mir. »Dein Mann kommt auch ins Krankenhaus, wenn er Dummheiten macht. Obwohl, dein Mann … Quatsch! In deinem Alter!« Und wenn mir eine Krawatte gelingt: »Stimmt’s, Maman? Gar nicht schlecht für ihr Alter!«
Unmöglich, ihr begreiflich zu machen, dass ich kein kleines Mädchen bin wie sie, jeden Abend muss ich ihre Kuscheltiere küssen und zwischen den Mahlzeiten aus ihrem Puppengeschirr essen. Der Bär ist in beiden Richtungen durch das Tor der Santé spaziert, das Puppengeschirr hat sich vielleicht in den Fluren des großen Gefängnisses an anderem Blechzeug, Schüsseln oder Schlüsseln gerieben. Sonnabends begleitet Nounouche ihre Mutter ans Krankenbett des lieben kranken Papas, und sie vergisst nie, das eine oder andere Spielzeug mitzunehmen, damit Papa hinter seinem Gitter eine halbe Stunde spielen kann.
Ich möchte sie nicht begleiten – nicht, dass ich Angst hätte, aber die Sprechzeit ist der einzige Moment in der Woche, wo die Bude mir gehört. Ohne Ziel, ja sogar ohne Neugier wühle ich in allen Ecken, um die übrigen sechs Tage »Darf ich, Annie …« zu kompensieren. Ich wasche mir die Haare, betrachte mein Spiegelbild von der Tür der Waschecke aus, die direkt an die von Schrank und Schlafzimmer stößt: Eine neue Eva, nur mit einem Handtuchturban bekleidet, bewege ich mich in einer von Krawatten und Spielsachen übersäten Wüste. Um meine Hilfsbereitschaft zu beweisen und meine Entdeckungen ungeschehen zu machen – Schande der zwischen das Regal des Gaskochers und den Zähler gestopften Schmutzwäsche, Trostlosigkeit eines Stückchens seit Monaten in der Tiefe des Büffets vergessenen Gruyère –, wienere ich den Boden und die Unterseiten der Töpfe. Ich räume auf, ohne allzu sehr in die Unordnung einzugreifen, verleihe ihr lediglich eine etwas geometrischere Form. Um meine Ungeduld, sie wiederzusehen, auszudrücken, gehe ich runter und kaufe im Eckladen Bonbons und im Bistro zwei doppelte Ricard, decke einen Empfangstisch. Trotzdem würde ich bei Gelegenheit gern mal eine halbe Stunde im Chez Marcel sitzen, Rue de la Santé, gegenüber vom Knast. Die Gesichter in dieser Kneipe gehören Freunden, die nicht zur Sprechzeit zugelassen wurden, Freunden der Verwandten des Gefangenen. Die Bündel und Koffer, die sich in allen Ecken stapeln, sind für die Gefangenen bestimmt oder kommen von ihnen; sie enthalten ihre schmutzige oder ihre saubere Wäsche, sie verbergen vielleicht die Feile oder die Kassiber für den Jahrhundertausbruch … Nein, bei Marcel ist jedes Gesicht anständig und jedes Anliegen ebenso.
Ich könnte die Leute und das Gepäck rein- und rauskommen sehen, sauber und fröhlich oder schmutzig und schluchzend, und das Schauspiel in den Kulissen eines großen Knasts würde mich rühren, wie Juliens leere Hemden in meinen Händen.
Annies Schwägerin und ihr Mann haben auch
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