Astragalus
schnuppere Paris, verkrieche mich in seinem Herzen. Ich bin wieder da, geschlagen, gebrochen, aber trotzdem da. Übrigens sagten wir im Knast oft, nur ein Ausbrecher ist ein guter Einbrecher. Paris, ich bin wieder da, ein Trümmerhaufen, aber ich fange wieder an zu leben und zu kämpfen.
Eine leichte, intime, familiäre Unordnung, Nounouches Spielsachen und Schuhe, hingeworfene Kleidungsstücke, verbindet Möbel und Gegenstände.
Ich räume den Kofferinhalt in den Schrank. Dann bebope ich zurück in das andere Zimmer. Hier gibt es keine beängstigenden Freiräume, man kann sich festhalten und weiterziehen; die Krücken werde ich nur zum Ausgehen benutzen. Annie und Julien unterhalten sich. Ich setze mich auf das Fensterbrett, die Nase im Baum. Im Hof herrscht Kommen und Gehen, Schnattern, Kinder rennen, malen eine Hopse auf; Wäsche trocknet und verhängt die Fenster mit bunten Farben.
Diesmal bin ich Annies kleine Nichte, die sich nach einem Autounfall bei ihr erholen will. Ich komme aus der »Provinz«, das ist groß und unbestimmt, das interessiert die Pariser nicht.
»… Ich habe sowieso kaum mit den Nachbarn zu tun«, sagt Annie. »Ob sie über meinen Mann Bescheid wissen oder nicht, ist mir egal; hallo und tschüs. Am Ende des Flurs wohnt die alte Villon. Sie näht zu Hause Konfektionskleidung – auch nach Maß, wenn man genug zahlt. Ihre Kinder gehen mit meiner Kleinen in die Schule, deswegen muss ich ab und zu vorbeischauen. Oder sie kommt sonntags mit ihrem Mann auf eine Partie Belote. Aber ansonsten … Seit ich allein bin, gehe ich nicht mehr aus dem Haus, es widert mich an, rauszugehen. Markt, Besuchszeit am Sonnabend, meine Krawatten ausliefern, das war’s.«
Ihre Krawatten?
Während Annie redet, nimmt sie ihre Arbeit wieder auf: Sie schnappt sich eine Krawatte von der Stuhllehne und ein Stück Molton aus dem Paket auf ihrem Schoß, klemmt sich die straffgefaltete Krawatte unters Knie, und ihre dicke Nadel saust mit großen Heftstichen von einem Ende zum anderen und näht das Molton fest. Annie verknotet den Faden, hebt das Knie, lässt die Krawatte fallen, fädelt einen neuen Faden ein, greift nach der nächsten … Ich frage mich, wie viele Stunden Krawattennähen sie braucht, um so viel zu verdienen wie in zehn Minuten mit ihrer früheren Tätigkeit. Julien hat mir von einem Treueschwur erzählt … Aber trotzdem, diese anständige Arbeit passt überhaupt nicht zu ihrer ganzen Erscheinung und zu dem, was sie so von sich gibt. Aber gut … Ich behalte meine Beobachtungen für mich und erkläre Annie, dass ich es toll finde, sie als Tante zu haben. Sie lacht und krawattiert ohne Unterlass, greift nach jedem Abschlussknoten und vor jedem nächsten Einfädeln zu ihrer Zigarette, die auf der großen Streichholzschachtel neben Päckchen, Aschenbecher, Schere und Glas liegt – die Grundausstattung. Und der Hausschuh hebt sich auf dem Schemel, verschiebt das Knie, die Krawatte fällt, der Haufen wächst … Mir wird schwindlig, ich schäme mich meiner Untätigkeit.
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Siehst du«, sagt Julien, »die Macht des Vorbilds! Kannst du sie einführen, Annie?«
»Ich kann sie einführen oder auch verführen … Sehen Sie, jetzt muss man sie mit diesem Haken umdrehen. Dann hefte ich sie im Dutzend zusammen und packe sie ein …«
»Ohne sie zu bügeln?«
»Vor dem Nähen gehe ich einmal über die Außennähte, um sie zu glätten, aber für das Abschlussbügeln ist mein Schwager zuständig. Ja, ich sitze zwischen zwei Verwandten! Die Schwester meines Mannes macht die Nähte und Säume mit der Maschine, ich nähe sie zusammen, gebe sie ihnen zurück, sie machen sie fertig.
Natürlich bringt ihnen das viel mehr ein als mir. Tja, wenn ich eine Nähmaschine hätte und auf eigene Rechnung arbeiten könnte …«
(Julien, »besorg« gefälligst eine Nähmaschine!)
Bis zum Abendessen schmieden wir vereint um einen Berg unvollendeter Krawatten nette, unhaltbare Pläne. Annie wird von der Familie ihres Mannes ausgebeutet, keine Frage; ansonsten kann sie ein gutes Gewissen haben, wenn es ansonsten überhaupt was gibt … Still, Anne, fang nicht an, ihr was zu unterstellen!
»… vor allem, weil sie immer rücksichtsloser werden«, erzählt Annie. »Sie sagen zum Beispiel, ich soll die Krawatten um drei bringen, und sie kommen um fünf, bis dahin sitze ich mit meinem Ricard in der Kneipe rum … A propos, ich gehe runter, welchen holen, und sammle bei der Gelegenheit gleich Nounouche
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