Astragalus
ein. Was soll man machen, sie muss doch spielen, und hier drin ist es zu eng für das Kind.«
Sie geht ins Schlafzimmer und kommt im Kleid zurück. Dann spült sie ein Glas mit dem Wasser aus der Karaffe auf dem Büffet aus, schüttet das Wasser aus dem Fenster, nimmt ihr Portemonnaie aus der Schublade.
Julien hält sie auf: »Aber wo doch Anne sowieso im Viertel herumlaufen wird, können wir doch auch alle drei nach unten in die Bar gehen.«
»Nein, ein andermal … Hier haben wir unsere Ruhe. Wenn es abends still ist, stelle ich das Radio lauter, dann ist nix mit an der Tür lauschen. Die Bar ist nur gut, wenn man nichts zu bekaspern hat.«
Bekaspern!
»Sie ist in Ordnung«, sage ich zu Julien, sobald wir allein sind. »Hier gefällt’s mir. Ich glaube, das geht gut … Sie ist jedenfalls ein nettes Mädchen und … Mein Gott! Vier Jahre, ihr Macker? Sie tut mir leid. Wie lange hat er noch?«
»Er fängt grad das dritte an. Aber … lass dich nicht einwickeln: Annie ist sehr nett, wie du sagst, aber sie hat vor allem Kraft. Also spiel weiter die Ahnungslose, du siehst nichts, du weißt nichts. Ich habe für zwei Monate geblecht. Schlag dir den Bauch voll und zerbrich dir nicht den Kopf. Sie wird dir Geschichten erzählen, wahre oder falsche: Tu so, als würdest du sie alle glauben. Und … treib dich trotzdem nicht allzu viel in Paris rum.«
»Ich werde den ganzen Tag Krawatten nähen, versprochen. Es sieht nicht so aus, als könnte man hier sonst viel anstellen … Was mich am meisten einschüchtert, ist die Kleine.«
Die Tür geht wieder auf, und ein kleiner blonder Wirbelsturm saust auf uns zu.
Vor dem Büffet bremst Nounouche und ruft: »Hallo Julien! Wie geht’s?«
Nounouche ist sieben oder acht. Sie ist hoch aufgeschossen, sehr blass mit rosa Sommersprossen, die Spitze des Pferdeschwanzes streichelt ihre Schultern. Sie sieht aus wie eine grüne, von der Pariser Sonne nur zart gefärbte Aprikose. Sie redet deutlich und altklug, duzt jeden, sie ist reizend und flirtet schon sehr kokett.
Im nu ist sie ist auf Juliens Schoß geklettert, hat sich wie eine Geliebte an seine Jacke geschmiegt und spricht mit ihm wie eine Erwachsene.
Annie kommt herein, das Glas voll Pastis in der Hand.
»Nounouche, du Nervensäge, komm da runter. Hol lieber frisches Wasser vom Flur.«
»Nein.«
»Doch.«
»Aber dann trinke ich mit euch.«
»Na gut, na gut«, seufzt Annie.
Ich höre den Wasserhahn im Treppenhaus. Es gibt kein fließendes Wasser in der Wohnung. Man wäscht sich und kocht in einer Küchenkammer; Annie zeigt mir den Eimer, die Schüssel, den Platz, wo ich meine Toilettensachen abstellen kann.
»Und wenn Sie sich waschen, schieben Sie den Riegel vor, denn meine Tochter …«
Ich ahne schon, dass uns das Apriköschen noch ganz schön auf den Geist gehen wird.
9
Nach einer Woche habe ich alle Ausgaben von Intimité und Nous deux aus Annies Bibliothek durchgelesen und auch sonst reichlich Intimitäten zu hören bekommen. Ich bin offenkundig unbegabt für Krawatten, und Annie will nichts davon wissen, dass ich ihr bei der Wäsche oder in der Küche helfe.
»Mit Ihrem Bein? Das ist nicht Ihr Ernst!«
Also gehe ich auf dem Boulevard spazieren. Ich schleppe mein Bein mit wie eine Schildkröte ihr Haus, mit der gleichen methodischen Langsamkeit. Der Sommer lässt die Schatten der Kastanien zittern; am Ende, dort hinten, lockt die Oase der Kreuzung. Bis dahin schaffe ich es nicht. Ich mache kehrt und bin brav zur vereinbarten Zeit zurück. Das Auge meines Gewissens ist ein Ziffernblatt. Wenn Annie ein oder zwei Stunden zu spät von ihrer Auslieferung zurückkommt, ist das ihre Sache, aber ich, ich stehe noch unter der Fuchtel der Uhr, der Uhr der anderen, die meine Abwesenheit beunruhigt, der unsichtbaren Uhr des Gefängnisses, die dich ansieht und zurücktreibt; außerdem habe ich bei Annie weniger Lust abzuhauen.
»Noch ein Schluck Wein, Annie? Es ist nur zehnprozentiger, nicht weiter gefährlich …«
Nach dem abendlichen Dessert schwatzen wir, bis die Literflasche leer ist. Annie und ich, zwei Frauen ohne Liebe und ohne Glanz – ich kann nicht, sie will nicht mehr. Den ganzen Tag hängen wir aneinander, verbunden durch die gleichen Gesten, Mahlzeiten, Frauenschmerzen, durch die Nadeln, die sich gleichzeitig bewegen, ihre nach links, meine nach rechts; unsere Stühle stehen sich gegenüber, und ich bin Linkshänderin, wir spiegeln uns. Wir nähen, wir rauchen, wir singen vor uns hin, ab und zu
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