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Astragalus

Titel: Astragalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albertine Sarrazin
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mit dem Schwachsinn, sonst werde ich sauer.«
    Aus meinem Fach an der Rezeption hole ich jeden Abend die Leere; jeden Morgen hoffe ich auf das Klingeln des Telefons; aber er ruft mich nie an. Verfluchter Hörer, verfluchter Julien, Leben einer Verfluchten, verfluchtes Leben, das ich trotzdem bei jedem Sonnenaufgang segne, wenn ich die Augen aufmache und mein Zimmer sehe, das ich mir fern der Zelle gesucht habe, in der man mich einmauern wollte.
    »Ich laufe, Julien …«
    Der Sack wird immer dicker, ich sammle nichts außer Kohle, ich rechne. Bald habe ich genug, um mir vier Wände zu kaufen, ich … Aber ich muss in diesem Hotelzimmer bleiben und das Telefon anglotzen, bis Julien wiederkommt und mich noch einmal befreit.
    Ich werde ihn nicht mehr zwingen. Ich will nicht, dass er nochmal vor mir heult.
    »Heulst du, Jean?«
    »Nein, ich bin erkältet …«
    Heute Abend war ich besonders gemein. Ich habe mich geweigert, aus dem Papier vom Deli zu essen, ich fand die Laken schmutzig und das Wasser aus dem Hahn lauwarm … Wir liegen zehn Zentimeter voneinander entfernt und meiden uns: Jean flieht vor meinen Worten, ich fliehe vor seinen Händen. Er liebt mich, und das belastet mich, die ich nur sein Bett liebe. Aber je mehr ich rummotze, desto kleiner macht er sich, desto mehr vergeht er in Geduld und Freundlichkeit … Dann schäme ich mich. Um mir Mut zu machen, kippe ich den Rest der Flasche runter, die, seit ich hierherkomme, jederzeit auf dem geradezu manisch geputzten und aufgeräumten Nachttisch steht, und beschließe, ein Schatz zu sein.
    Mit geschlossenen Augen nehme ich Jean auf. Ich erkenne seine Sanftheit und sein Wissen, ich stelle mir das Glück vor, das er mir schenken würde und das mir entgeht, das Gesicht vor Schmerz verzerrt, Julien, Julien …

1 2
    »Versuch nie, zu meiner Mutter zu kommen, rühr dich nicht aus Paris weg, warte auf mich, ich komm immer zurück.« Drauf geschissen! Ich werde diese Ermahnungen zur Vorsicht ignorieren und mich erkundigen. Ich werde mich beim Haus herumtreiben, ohne mich zu zeigen, und wenn Julien da ist, werde ich seine Anwesenheit riechen.
    Ich habe die Telefonnummer, die er mir am Bahnhof gegeben hat, ich kriege die dazugehörige Adresse raus und gehe hin, auch wenn ich voll in die Falle tappe. Irgendwas läuft hier total schief, das Schweigen schreit, ich muss Bescheid wissen.
    Ich nehme den Zug. Mit leeren Händen und leichten Taschen: nur meine Fahrkarte, Bonbons und ein paar Geldscheine. Heute Abend bin ich zurück, mit oder ohne Julien, aber auf jeden Fall mit Neuigkeiten.
    Ich döse beim Rattern des Zuges an der Kopfstütze, sehe vor dem Fenster die glatte, öde Landschaft, das schwingende und fließende Defilee der Telegraphendrähte. Cine setzt sich wieder neben mich; die Strecke ist dieselbe, aber heute Morgen trommelt der Regen nicht den Abschied von Paris, die Sonne ist freundlich, verheißungsvoll, frei. Cine ist tot und Julien lebt.
    Da ist der Ort. Ohne zu zögern finde ich mich zurecht, erreiche das Haus der Mutter. Es ist halb elf, das passt, die Kinder sind in der Schule, Eddie ist bei der Arbeit, und es sieht nicht so aus, als würde ich mich zum Mittagessen einladen. Ich öffne das Gartentor, drücke die Nase an die Glastür zur Küche. Ich sehe mich wieder blutend und zitternd auf dem Stuhl vor dem Herd sitzen, unzufrieden bei der Ostermahlzeit, gemästet mit Huhn und Schlaf, bin auch da oben am Schlafzimmerfenster. Hier war mein längstes, mein bestes Haus.
    »Madame! …«
    Die Mutter ist herausgekommen, den Salatkorb in der Hand; sie will gerade die Schwelle benetzen. Als sie mich sieht, hält sie erschreckt in der Bewegung inne, dann öffnet sich ihr Lächeln im gleichen Moment wie ihre Arme; und sogleich formt unsere Liebe für denselben Mann ein Band aus Verständnis und Angst: Julien, mein Liebster, ihr Sohn. Julien ist zwischen uns und vereint unsere Hände.
    »Verzeihen Sie, dass ich gekommen bin, das ist sehr riskant, ich weiß … Aber ich sterbe vor Sorge. Wo ist er?«
    Und die Mutter fängt an zu weinen, große, lautlose Tränen. Sie ist ganz klein, fast so wie ich, und da das Alter sie etwas beugt, habe ich keine Mühe, sie in die Arme zu schließen. Sie hat Julien in ihrem Bauch getragen, Julien ist noch ein bisschen in ihr, und ebenso, wie er mein Liebster und mein Bruder ist, ist seine Mutter auch meine, meine Schwester, Maman.
    »Was ist geschehen, Ma… Madame?«
    »Julien hat vorgestern geschrieben, er ist in X … wieder mal

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