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Astragalus

Titel: Astragalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albertine Sarrazin
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genügend Scheine am Faden hängen.
    Um mein Leben als freie Frau angemessen und in Hochform zu beginnen, schlief ich bis zum Abend. Nach dem Essen legte ich mich wieder hin und blieb noch den ganzen folgenden Tag in meinem Zimmer. Ich benutzte das Telefon am Kopfende meines Betts als Spielzeug; die Hotelrechnung gab mir mehr Freiraum als die Jetons in den Bars, ich schickte einen Überraschungsgruß nach hier und da, dann ließ ich Annie von der Wirtin unten in ihrem Haus rufen, die, bei der wir den Pastis pro Glas kauften.
    Annie nahm meine Entschuldigungen höchst bereitwillig an, erwiderte sie und übertrumpfte sie noch: Ich bin auch ganz schön ausgerastet, solche Ausbrüche festigen die Freundschaft, kommen Sie mich bald besuchen und so weiter.
    Ab und zu tauche ich also mal kurz bei ihr auf. Ich habe die Tasche voller Geschenke, und damit Annies ewiger Morgenrock mir meine Aufmachung verzeiht (die ich natürlich jedes Mal sorgfältig wechsle), überschlage ich mich in Freundlichkeit und Einfachheit. Ich glaube nicht, dass sie es draufgehabt hätte, mich zu verpfeifen, aber ich fürchte und umschmeichle jeden. Die Angst, erwischt zu werden, lässt mich nicht los; ich lerne, ihr ins Gesicht zu sehen, ich zähme sie, aber ich kann sie nie verjagen. Der Schatten droht, ich erkenne ihn, ich mustere ihn, dann stürze ich mich auf ihn. Kommst du mit? Ja, ich komme mit. Geh vor, ich komm hinterher. Kleinscheiß, Pipikram, unangemessenes Risiko, müder Knöchel, Kram und Knüppel, die in jeder Sekunde auf mich niedergehen können – beschütze mich, Julien, denn zu dir, zu dir allein kehre ich zurück. Meine Freiheit stört mich, ich würde gern in einem Gefängnis leben, dessen Tür du verschließen und aufbrechen könntest, etwas öfter, etwas länger …
    Ich habe heute ordentlich geschuftet. Ich nehme meinen Pausenpastis und schwatze mit Suzy, einer Exminderjährigen, die sich seit Fresnes einiges an Fett und Vulgarität zugelegt hat, außerdem einen Zuhälter und – vor dem Zuhälter – ein Balg, das jetzt drei ist. Ihre Mutter bringt es manchmal her, und während Mama arbeitet, spielt es hinter dem Tresen oder sitzt rittlings drauf.
    Wir erinnern uns der Zeiten, als Suzy – damals Suzanne – zwei oder drei Mal im Jahr nach Fresnes zurückkam, wegen Flucht aus dem Bon Pasteur, kleinen Diebstählen oder Landstreicherei. Suzanne stand bei den Minderjährigen hoch im Kurs, denn sie war fast zwanzig, sozusagen mündig, konnte Auto fahren und sogar klauen.
    Ich betrachte sie mit ihren fetten Fingern, den grell lackierten und spitz geschnittenen Nägeln, den weißen Schultern unter der durchsichtigen schwarzen Bluse, halb Spitze, halb Jersey, ihren extrem hohen Pumps, die die Füße schwellen und ihre runden Beine schmal zulaufen lassen.
    Ich frage: »Sag mal, Suzy, und die Schlitten? Immer noch scharf drauf?«
    Ich stelle mir vor, wie die Bleistiftabsätze über die Pedale rutschen, wie die Nägel den Motor kurzschließen. Ich sehe die Suzanne aus Fresnes wieder vor mir, die wir jeden Mittag zur Zeit der Sporthosen hänselten: »Schau sich einer diese Stelzen an, sie hält sich wacker, die Kleine.«
    »Nichts da!«, sagt Suzy, zündet sich ihre Pall Mall mit einem vergoldeten Feuerzeug an und bläst den Rauch zur Decke. »Jetzt habe ich ein Kind, ich habe Schiss! Ich fass nichts mehr an, ich geh in Ruhe anschaffen …«
    Und ich wollte sie irgendwo reinziehen!
    »Noch zwei Ricard, Jojo«, ruft Suzy. »Einer normal und einer mit Sirup.«
    Ich protestiere, für heute habe ich wirklich genug von der Sauferei.
    »Komm schon, der Letzte.«
    »Na gut, der Letzte …«
    Vorgestern kam Julien in einem alten Citroën angefahren – »fast geschenkt, Supergelegenheit«. Er hat mir Zulassung, Vignette und Versicherungskarte gezeigt. Zum ersten Mal höre ich ihn damit angeben, dass er etwas gekauft hat, aber sicher wollte er damit meine ständige Panik dämpfen – mach dir keinen Kopf, Anne, mein Häschen. Er brachte mir Osterglocken mit, die er bei einem der Händler gekauft hatte, die im Frühling alle zehn Meter am Straßenrand stehen; der Strauß passte gerade in meine große Tasche, ein eckiges Köfferchen, Typ Vanity Case, Kleiderschrank und tragbares Badezimmer.
    »Ich stell sie in lauwarmes Wasser, sobald wir zu Hause sind«, sagte ich. »Dann werden sie gleich wieder frisch, du wirst sehen.«
    »Ich werde nicht sehen … Sei mir nicht böse, Anne, aber ich kann heute Abend wirklich nicht bei dir bleiben.«
    Wenn er

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