Astragalus
und gebürstet, über dem gegerbten Gesicht eines sehr jungen alten Mannes mit klaren Augen und starken, weißen Zähnen. Während ich sonst die Küsse der Männer immer zu meiner Wange umlenke, habe ich bei dem hier fast Lust zum Küssen; er hat erholsame Lippen, demütig und gierig zugleich … Wir kommen aus dem Hotel, wir trennen uns, dann drehen wir uns im selben Moment wieder um, kommen zueinander zurück und gehen Seite an Seite im Gleichschritt weiter.
»Wollen Sie mit mir essen?«
Ich zögere, mein Laufgeld für heute ist noch nicht drin. Ich bin mein eigener Kuppelboss, aber unterm Strich muss auf dem Strich genug rauskommen.
»Gern … aber macht es Ihnen etwas aus, mich in ein, anderthalb Stunden hier abzuholen?«
»Sie wollen noch arbeiten? Gehen wir essen. Sie sagen mir, wie viel Sie dadurch verlieren, und ich gebe es Ihnen.«
Komisch, dieser Typ. Seine Klamotten und seine Sprache wirken eher einfach, trotzdem scheint er Kohle und Manieren zu haben, ist selbstsicher und höflich. Für mich ist er wie ein Ruheplatz, an dem man gut schläft, eine brünette Schulter, an der ich mich ausruhen könnte, die Augen voll von blonden Schultern, oh, Julien …
Taxi, Pigalle, Restaurant, Rechnung bitte, wohin gehen wir jetzt? Kino, Nachtbar, tanzen, Les Chansonniers?
Ich will nicht mit dem Alten gesehen werden, denke, ich lasse ihn blechen und mich befriedigen, pack mich in sein Bett und zisch vor dem Morgen ab.
Er traut seinen Ohren nicht – ich bin frei, tatsächlich? Ich sage: »Ich habe keinen Macker. Das heißt …«
Nein, ich sage nichts.
»… jedenfalls wohne ich nicht bei ihm.«
Heute Abend ist es wirklich nicht vorsätzliche Hehlerei von zwei alten Jungfern, denen die Bude gehört und die in puncto nächtliche Besuche kein Pardon kennen. Er schleicht die Treppe hoch, und ich folge ihm mit den Schuhen in der Hand.
»Sie sind übrigens die Erste, die zu mir kommt«, sagt er.
»Das will ich hoffen«, sage ich, während ich meine Botten durch den Raum schmeiße und meinen müden, geschwollenen Knöchel auf der glattgezogenen Tagesdecke ausstrecke.
Möbliert … Ich hatte die Brauen hochgezogen. So, wie der Typ aussah, hatte ich mehr mit einer Absteige als mit einer Luxusjunggesellenwohnung gerechnet und mich auf höfliches Schweigen eingestellt.
Plötzlich bin ich erledigt, so erledigt, dass ich mich nicht mehr rühren und nicht mehr quasseln oder auch nur das Gesicht verziehen kann. Ich lass mir ein Glas eingießen, er führt es bis an meinen Mund, ich schlucke wie ein Baby, meine Zunge ist verbrannt, schmutzig, rau.
Er kleidet mich aus, zieht die Decke unter mir weg und setzt sich auf den Bettrand. Will er mich bewachen oder was?
»Kommst du auch ins Bett, ja?«
Jetzt ist er ein Mann, nackt, anonym, nicht mehr und nicht weniger hässlich als die des Nachmittags, nur mit dem Vorteil, ein eigenes Bett zu haben.
Nach einer Weile sage ich: »Komm, es reicht …«
Der Arme, er wollte mir Vergnügen bereiten!
Er schlägt mir den nächsten Sonntag vor. Ich hatte gehofft, das Wochenende mit Julien zu verbringen. Mein mörderisches Besäufnis verlangt meiner Meinung nach eine Entschädigung. Aber Julien hat nicht angerufen.
Passiv und schwitzend nehme ich das Angebot an, die Zeit mit Jean zu verbringen, mit ihm zu essen und zu schlafen; ich nehme auch den Inhalt seiner Geldkatze an. Er erzählt mir sein Leben. Er ist wirklich Arbeiter, aber Spezialist, ein Wichtiger, er wartet die gigantischen Maschinen mit dem sensiblen Innenleben, während sie auf den Baustellen oder hinter den Rennplätzen schlafen. Jean spricht von seinen Maschinen wie von geliebten Frauen – Jean, der Mechaniker.
Wenn der Panzer zu dick ist, wie bei Pierre zum Beispiel, versuche ich nicht, die Leute für mich zu interessieren; nach ein paar schlecht aufgenommenen oder falsch gedeuteten Avancen ziehe ich mich in die Gleichgültigkeit zurück, die ich für sie empfinde. Nicht aus Verachtung, sondern weil ich die Ohren und die Herzen nicht zwingen kann; man muss zu mir kommen. Ich passe mich den Leuten an, gleichgültig bei ihrer Herablassung, vertrauensvoll bei ihrer Fürsorge, lächelnd bei ihrer Fröhlichkeit.
Jean erregt mich, leckt mich, macht meine Beine wieder gleich: »Und du sagst, du hast keine schönen Haxen? Schau sie dir doch an, schau sie dir im Spiegel an, deine Beine!«
Von wegen! Das rechte von einem Pin-up-Girl und das linke von einer Puppe. Warum soll ich ihm nicht glauben?
»He, he, Jean, hör auf
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