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Astragalus

Titel: Astragalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albertine Sarrazin
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Wir gehen, wohin du willst … Komm schon, Anne … Und hör auf zu weinen, du kannst dir nicht vorstellen, wie mich das fertigmacht.«
    »Nein: Wir werden die Päckchen wegräumen und dann schlafen.«
    Ein Teil von mir schläft mit Jean, wacht von Jeans Wecker auf und sieht Jean am Abend wieder. Manchmal rufe ich ihn auf der Arbeit an, um ihm zu sagen, dass ich ihn abhole, und unternehme endlose Metrotouren, um zu ihm zu kommen; das dauert länger als mit dem Taxi. Um die Zeit noch mehr zu dehnen, bummle ich mit Jean auf den von Menschen und Sonne gewärmten Boulevards herum, lass mich in Geschäfte führen oder in Ecken von Paris, die er mir zeigt und erklärt, das ist sein Paris, er schenkt es mir. Dann gehen wir wie zwei alte Eheleute einkaufen, Markt, Bäcker, Deli, jedes Mal. Ich stelle mich nur selten an den Herd, Jeans Begeisterung und das Gewese, mit dem er jede von mir zubereitete Kleinigkeit genießt, ist ungenießbar.
    Wir sind umgezogen. Das Zimmer ist viel weniger schön als das andere, aber ich habe offiziell Zutritt dazu, am Empfang haben sie meine Fleppen kaum angerührt, sie nennen mich Madame Nachname-von-Jean. Der Hof ist voller Kinder, die Fenster voller Wäsche, und es gibt kein fließendes Wasser, aber dieses banale Arbeiterleben gefällt mir.
    Mein Badezimmer ist am Ende des Gangs, in der Toilette: Ich stehe über dem Toilettenbecken und gieße mir Schüsseln mit kaltem Wasser über die Schultern, strecke die Beine unter den Hahn, der an der Mauer in Höhe der Knie aus der Wand kommt. Wenn ich in ein Handtuch gewickelt zurückgehe, drängeln sich die Nachbarn mit ihren Eimern in der Hand im Treppenhaus, denn dieser Wasserhahn ist der einzige auf der Etage. Aber niemand sagt einen Mucks: Die Beschwerden übermittelt der Vermieter … Mir ist das piepegal, meine Dusche tötet eine halbe Stunde, ich gönne sie mir weiter zweimal am Tag.
    Den Rest des Tages lese ich die Bücher von Jean und blättere in seinen Papieren, technischen, von seinen Reisen, privaten. Ich lächle durch das Fenster den Gören auf dem Hof zu, ich warte auf die Heimkehr meines Gatten. Niemand scheint sich über meine Jugend neben Jeans grauen Haaren und unser verliebtes Hand-in-Hand zu wundern. Ich lasse Jeans Hand los, sobald wir die Hausschwelle überschritten haben, er rundet den Arm, ich hake mich ein; so gehört sich das. In dieser Ecke ist es normal, unverheiratet mit viel Älteren oder viel Jüngeren zusammenzuleben, zu tratschen, zu trinken, sich zu prügeln. Die exotische Note tragen zwei Zimmer voller Neger, Negerinnen und Negerlein bei; sie schreien nicht, sie singen, und der würzige Geruch ihres Essens dringt unter der Tür durch. Das veranlasst Jean, mir wieder von seinen Kolonien zu erzählen, während ich mit dem anderen Ohr auf meinen Transistor lausche und ab und zu aus der Cognacflasche auf dem Boden trinke. Jean sagt nichts dazu, dass ich trinke, dass ich mich rumtreibe (»Gehen wir ein Stück? Nehmen Sie mich mit?«), dass ich zu platt bin, wenn ich wiederkomme, um ihm noch zu antworten … Ich stelle die offene Tasche auf das Bett und zähle die am Nachmittag verdiente Kohle.
    »Irgendwie verstehe ich dich nicht«, sagt Jean. »Du hast doch genug Kohle, warum riskierst du es, in eine Razzia zu kommen? Erst recht, wo du die Kerle gar nicht liebst!«
    »Liebe ich dich denn, Jean? Und trotzdem komme ich jeden Abend zurück, oder fast jeden. Und warum? Weil es mir passt, verstehst du, weil es mir passt. Aber du bist mir genauso egal wie sie, wie die ganze Welt. Die Kohle behalte ich, weil sie nicht mir gehört, sie gehört auch Julien, und wir werden sie zusammen durchbringen. Ich will alles unangetastet für ihn aufheben, mit dem bisschen Liebe, zu dem ich imstande bin …«
    Jean schluckt das alles, ich glaube sogar, er mag es. Ich lege nach, zeige ihm die kalte Schulter, ich trinke und breche zusammen. Ich schlafe, bis mich Jean mit Kaffee und Brot weckt, das er geschnitten und mit Butter bestrichen hat, ohne Lärm zu machen, damit ich gut drauf bin, wenn ich die Augen aufmache. Er ist schon bereit, zur Arbeit zu gehen, angezogen, rasiert, seine Tasche in der Hand. Ausgerechnet dann werde ich ganz kuschlig …
    »Und dein Job?«, frage ich hinterher.
    »Komme ich halt zu spät, na und?«
    Gemütliche Vierundzwanzig-Stunden-Pension: Ich kann spazieren gehen, gleich und die ganze Nacht, wenn ich will. Aber ich schlafe immer noch selten woanders; meiner Haxe ist warm, sie verlangt nach alten Latschen und

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