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Astragalus

Titel: Astragalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albertine Sarrazin
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frischen Laken, und ich versuche, die Grenzen zum Sakrileg nicht zu überschreiten. Wenn ein Mann Juliens Augen hat, oder wenn er seine Brieftasche so trägt, wie Julien es tat, oder wenn er mich mit Juliens Stimme anspricht, wende ich mich ab und rette mich zu Jean, Jean, der wenigstens nichts hat, was mich in Versuchung bringt zu lieben. Sein Körper stößt mich nicht ab, er ist freundschaftlich und ohne Überraschung, sanft, ganz angenehm. Was ich hasse, ist seine Zurückhaltung, seine Resignation, sein permanentes Lächeln, in das sich manchmal ein trauriges Zucken schleicht.

14
    »Sie bleiben doch zum Schlafen? Ihr Bett ist noch da …«
    Ich wollte den Zug am selben Abend nehmen, aber Eddie besteht darauf; wahrscheinlich hat er mir was unter vier Augen zu sagen. Also nehme ich die Einladung an.
    Nach dem Essen bringt Ginette oben die Kleinen ins Bett, die Mutter umarmt mich und zieht sich in ihr Zimmer zurück, ich bleibe im Esszimmer mit Eddie allein. Er legt einen Stapel Schallplatten auf den Teller, setzt sich neben mich und zieht ein winziges Stück dünnes Papier aus der Brieftasche.
    »Da«, sagt er, »ein Kassiber von Julien, für dich. Erzähl der Mutter und Ginette nicht davon; unnötig, sie zu beunruhigen.«
    Ich falte das Durchschlagpapier auseinander. Vor die Anrede hat Julien geschrieben: »Erster von drei Kassibern« – ein zweiter für die Familie, der dritte bestimmt für die andere … Aber die ersten Worte verdrängen jede Frage, und so, vor Eddie, der es sich auf dem Sofa bequem gemacht hat und mit geschlossenen Augen hingebungsvoll seine Musik einsaugt, lese ich mit sterbendem Herzen, das Gesicht starr vor Freude.
    Julien gibt mir zunächst ein paar Erklärungen zu seiner Sache und Anweisungen, wie ich mich je nach Verlauf des Verfahrens verhalten soll: »Geh zum Anwalt, er ist ein altes Schwein, aber sauber, aber geh nur einmal hin. Sag ihm, dass du von dir aus kommst und dass ich es nicht erfahren soll … Er ist bezahlt: Gib ihm nichts, aber biete ihm was an.« Und so weiter.
    Zwischen den Zeilen lese ich hinter dem banalen Delikt des Verstoßes gegen das Aufenthaltsverbot (Julien hat sich schnappen lassen, als er hierher kam) seine Sorge, mehrerer Einbrüche in der Gegend beschuldigt zu werden. Wenn das passiert … »Die einzige Chance, sich nicht mehr zu verlieren, ist, sich nicht mehr zu verlassen: Wenn ich einfahren muss, mache ich den Abgang; wobei ich mit dir lieber einen Abflug machen würde …«
    »Aber wie steht es denn jetzt, Eddie? Der Brief ist von vor der Verurteilung, haben Sie nichts Neueres?«
    Eddie zögert. »Ja … das waren die ersten, die wir bekommen haben, in der ersten Lieferung Schmutzwäsche versteckt. Es gab dann noch mehr … Für Sie habe ich nur den einen. Aber Sie sehen ihn bald wieder: Er kommt am 21. Juni raus.«
    »Und wann wurde er verurteilt?«
    »Warten Sie … das ist höchstens zehn Tage her, die Staatsanwaltschaft hat sich Zeit gelassen. Die Kripo hat ihn während der U-Haft ein paarmal ausgequetscht; er bekam allmählich richtig Schiss und wollte schon abhauen. Dann ist es doch gut gelaufen. Sie haben nichts gefunden, weder bei ihm noch in seiner Karre, noch hier.«
    »Sie waren hier?«
    Eddie zuckt mit den Schultern. »Das können Sie annehmen. Wie üblich – Durchsuchung, die Mutter und meine Frau verhört … Diesmal haben sie die Bude von früh um acht bis abends um sechs auf den Kopf gestellt, hier sah’s aus wie auf der Baustelle, als ich vom Malochen kam. Mich haben sie zum Glück nicht weiter belästigt.«
    In solchen Fällen ist Eddie lieber der Vater von Juliens Neffen als der Mann seiner Schwester. Als er vor fünf Jahren aus dem Bau kam, hatte Julien ihn aufgenommen, und er hatte Ginette gefallen. Er hat sich hier niedergelassen, hat seine gerettete Haut gegen reine Wäsche und warme Pantoffeln getauscht. Die Kinder, die er, wie er sagt, »bereits fix und fertig« übernommen hat, nennen ihn Papa; sie haben sich gegenseitig adoptiert, das gibt ihm die optimale Rolle, und Eddie spielt sie sehr geschickt.
    Ich frage mich plötzlich, welchen Namen mein Kind trägt, wenn Julien mir eins macht … Aber ich spinne doch, niemals setze ich ein Kind mit »Mutter unbekannt« in die Welt, bloß nicht!
    Ich rede weiter: »Sie holen ihn am 21. ab? Ich komme mit, unbedingt!«
    Eddie, den sonst nichts in Verlegenheit bringt, wendet den Blick ab; die Stille wird schwer und zieht sich.
    »Noch ein Glas, ehe wir hochgehen?«, schlägt er vor.

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