Astragalus
Bude immer chaotisch ist, war mir das Arrangement des Durcheinanders nicht aufgefallen. Aber es stimmt, heute wirkt es mehr durchwühlt, weniger abgelagert …
»… nicht mal zu zählen: Ich wusste sowieso nicht genau, wie viel Sie mir dagelassen hatten.« Annie schlägt sich gegen den Kopf, richtet sich auf und fährt mit ihrer normalen Stimme fort: »Als Sie weg waren, habe ich die Knete aus dem Koffer geholt und woanders versteckt. Ich habe den Platz ständig gewechselt, weil ich das Versteck nie sicher genug fand; Sie wissen ja, dass Nounouche überall rumklettert und stöbert. Schließlich habe ich mehrere Pakete gemacht und sie an unterschiedlichen Orten verstaut …«
»Sie haben den Braten schon vorher gerochen?«
»Nein, aber ich habe wirklich gewartet, dass Sie zurückkommen, Anne, das kann ich Ihnen sagen! Ich verstecke lieber zehn Ausbrecher als das Geld von Freunden.«
»Obwohl die mehr Platz brauchen …«
»Ja, aber sie locken keine Diebe an.«
»Die locken Polypen an, das ist auch nicht besser …«
»Ach die, bis die hier reinkommen! … Aber ehrlich, Anne, sagen Sie mir, wie viel fehlt, sobald Dédé raus ist, zahlen wir’s zurück, Ehrenwort. Letzten Endes gibt’s den Kies an jeder Ecke«, endet sie im gewohnten mütterlich belehrenden Ton, »man muss ihn nur abholen … Wenn es nicht eilig ist? … Erst mal haben Sie ja das, und Julien ist auch bald zurück.«
Ich habe gezählt, wie groß die Lücke ist: Ich falte den Rest der Knete in der zerknitterten Zeitung wieder zusammen. Auf der Wachstuchdecke, Zeugin einstiger Gelage und Vertraulichkeiten, sieht mein Batzen so ganz wertlos aus, ohne anderes Geheimnis als die Fäden gedruckter Wörter, die es umschnüren, ein schmutziges Netz ohne Bedeutung: Die Zeitung von gestern oder vom vorigen Monat, die schalen Wörter verstecken schöne glatte Scheine. Den Rest wird Annie in Essen für Dédé oder in Steaks für Nounouche umtauschen, der Zweck reinigt die Mittel. Ich kann mich nur noch davonmachen.
»Also bis später, Annie. Und machen Sie sich wegen dieser Kleinigkeit keine Gedanken. Sie haben ganz recht, Julien ist bald wieder da. Dédé auch, Sie werden sehen. Die Männer werden sich viel besser als wir um diese Geschichte kümmern. Sie sind meine Freundin, und mit Freunden kann ich nicht rechnen …«
Ich gehe zu Jean zurück. Juliens Haus ist zu weit weg, der Zug ist schwül, und ich würde am liebsten schlafen, trinken, lachen.
Stattdessen heule ich, als ich die Treppe zur möblierten Wohnung hochgehe, Herz und Füße gleichermaßen nackt, die Latschen in der Hand.
Ich hatte zugestimmt, bei Jean zu wohnen, weil er gesagt hatte, er wäre oft auf Dienstreise, auf Baustellen in allen Ecken Frankreichs. Bei den ersten Gläsern, in den ersten Taxis hatten wir kaum ein anderes Gesprächsthema als unsere Tätigkeit, und Jean sprach nur von seinen Reisen. Ich folgte ihm dabei dank meiner Erinnerungen aus Büchern und versprach, ihn zu begleiten … Aber seit ich hier bin, rührt sich Jean leider nicht mehr von der Stelle; er lässt sich vertreten, schiebt Krankheiten vor und ist tatsächlich sehr müde.
Heute Abend überfällt mich seine Anwesenheit, kaum dass ich die Tür öffne, nicht so sehr er selbst, der unauffällig in einer Ecke sitzt, sondern die Ausbreitung seiner kleinen Welt, seine akribische Ordnung, die meine Sachen in sein makelloses Arrangement einbezogen hat; selbst die Uraniumkörnchen, die in kugelförmigen Lupengläsern schwimmen, die Sandrosen und das Quarzglas von den Baustellen in Afrika haben, so aufgereiht, jede Strahlung und jeden Glanz verloren. Mein Phonokoffer, in dessen Deckel die Platten gestapelt sind, ist mit einem sauberen Tuch bedeckt; meine Sachen und meine Schuhe liegen mit seinen gepaart im Schrank, auf dem ein großer Strauß Plastikrosen steht. Auf dem Tischchen in der Küchennische entdecke ich mehrere kleine Päckchen, die einen knistern – Kuchen –, die anderen fangen an zu fetten und auszulaufen – Sachen vom Deli. Angesichts dieser Vorbereitungen und Jeans fragender Blicke fange ich an zu schluchzen. Ich gehe zu ihm und lasse mich von seinen Armen umschlingen, von ihm küssen und mir die Haare streicheln.
Jeans Hemd riecht nach Waschpulver, nach seifigem Schweiß. Er liebkost weiter mechanisch und eifrig meinen Kopf, dabei wiederholt er: »Aber was ist denn los? Was haben sie dir denn getan, na? Ich habe dich noch nie weinen sehen! …«
»Na, das kannst du künftig nicht mehr behaupten.
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